Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
jetzt können Sie gehen.»
Krasek verbeugte sich, setzte seine Mütze auf und verschwand beinahe unhörbar.
Immer verschieden und doch vielleicht gleich, dachte Laura. Ein kluger Mann, dieser Stanislaw Krasek. Seine Beobachtung trifft wahrscheinlich in jeder Beziehung zu. Sie zog ihr Handy aus dem kleinen Lederrucksack und versuchte noch einmal Angelo zu erreichen. Doch eine unpersönliche Stimme verkündete erneut, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei.
Später starrten sie gemeinsam auf die Bilder der Überwachungskameras, die Baumann per richterlicher Anordnung von der Hoteldirektion bekommen hatte: Claudia, Andreas Havel, Laura und Peter Baumann. Kriminaloberrat Becker schaute kurz herein, verzog sich aber schnell wieder. Sie starrten auf den Bildschirm und sahen eigentlich nichts. Viele Menschen, das schon. Aber niemanden, der irgendeine Ähnlichkeit mit Donatella Cipriani hatte.
Gegen zwei bestellte Baumann Pizza, und sie begannen einen zweiten Durchgang. Gegen fünf hatten sie alle Kopfschmerzen und beschlossen aufzugeben. Keine Spur hatten sie von dem blonden Mann entdeckt, der auch eine Frau hätte sein können, und bei mehrfacher Betrachtung und zunehmender Müdigkeit erschienen ihnen nahezu alle Hotelgäste irgendwie verdächtig und ihr Benehmen zumindest seltsam. Manche hingen lange Zeit in der Lobby herum und schienen auf irgendwas zu warten oder irgendwen zu beobachten. Andere eilten mit gesenktem Kopf durch die Halle, als wollten sie auf keinen Fall erkannt werden. Kleine Gruppen saßen an den niedrigen Tischen und steckten die Köpfe zusammen, als planten sie eine Verschwörung.
«Haben die am Lieferanteneingang auch eine Kamera?», fragte Claudia und ließ vorsichtig ihren Kopf kreisen, um ihren verkrampften Nacken zu lockern.
«Keine Ahnung», erwiderte Baumann. «Ich werde mich erkundigen. Wenn du mit deiner Frage sagen willst, dass die gesuchte Person einen anderen Eingang und Ausgang benutzt hat, dann hast du wahrscheinlich recht.»
«Mir ist nur ein Gast wirklich aufgefallen», murmelte Laura. «Ich weiß nicht einmal genau, warum. Vielleicht weil er sich besonders selbstverständlich bewegte. Wartet … ich hab mir die Uhrzeit aufgeschrieben: Er kam um 15.21 Uhr aus dem Fahrstuhl, sah sich kurz um, hob grüßend die Hand Richtung Rezeption und ging dann langsam durch die Halle zum Ausgang.»
«Ja, und?» Baumann gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund.
«Der Doktor hat gesagt, Sutton sei zwischen drei und fünf gestorben. Wir sollten uns die Szene nochmal ansehen und darauf achten, wem der Mann zuwinkte.»
«Ich muss jetzt weg!» Claudia stand auf und gähnte ebenfalls hörbar. «Ich muss meine Tochter aus der Kita abholen.»
«Jaja, geh nur», nickte Laura. «Könntest du die Szene nochmal finden?» Sie sah fragend zu Andreas Havel hinüber.
«Klar. Da ist sie schon.»
Claudia blieb stehen und schaute wie die andern neugierig auf den Bildschirm.
«Der da!» Laura wies auf einen schlanken, nicht besonders großen, jungen Mann mit Sonnenbrille. Er trug einen eleganten dunkelblauen Mantel und einen ebenfalls dunkelblauen Schal, den er ziemlich weit über sein Kinn gezogen hatte. Jetzt schaute er sich um, winkte kurz und ging langsam Richtung Ausgang.
Havel wiederholte die Szene immer wieder, doch sie konnten nicht erkennen, wer auf den kurzen Gruß des Mannes reagierte.
«Das ist ein Italiener!», sagte Claudia, zog ihren Mantel an, winkte in die Runde und ging.
«Ja, das denke ich auch», stimmte Baumann zu. «Wieso findest ausgerechnet du einen Italiener verdächtig, Laura?»
«Wieso ausgerechnet ich, eh?»
«Na, als Halbitalienerin mit einem italienischen Freund …»
«Cazzo!», erwiderte Laura scharf und stand auf.
«Was heißt das bitte?» Baumann erhob sich ebenfalls.
«Das kannst du im Wörterbuch nachschlagen, Peter. Es schreibt sich mit c und hat in der Mitte zwei z. Würdest du bitte die besten Bilder des Verdächtigen vergrößern und ausdrucken, Andreas. Das wär’s dann für heute.»
Laura kehrte in ihr Büro zurück, setzte sich an den Schreibtisch und dachte nach. Welche Verbindung konnte es zwischen dem jungen Mann und Donatella Cipriani geben? Wie alt war der Sohn? Anfang zwanzig. Wäre es eventuell möglich, dass sie sich mit Hilfe ihres Sohnes von Sutton befreit hatte? Oder hatte sie einen Killer engagiert? Vielleicht war auch alles ganz anders, und sie hatten allesamt keine Ahnung, was eigentlich vor sich ging.
Noch einmal
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