Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
versuchte sie Angelo zu erreichen, um ihm zu sagen, dass sie offensichtlich nicht gut genug für
Vita divina
sei, doch wieder erreichte sie ihn nicht.
DIE NOVEMBERSONNE blendete den Commissario und Tommasini auf der ganzen Fahrt nach Asciano. Guerrini hatte seinen Kollegen auf alle Gefahrenstellen des Anwesens der Pisellis vorbereitet: den Hund, den verzweifelten Padrone, das Gewehr unklarer Herkunft, die unberechenbare Signora und einen möglichen Profi, den Geldeintreiber.
Tommasini hatte schweigend seine Dienstpistole überprüft und ins Schulterhalfter gesteckt.
«Es ist besser, wenn wir den Wagen abstellen und zu Fuß weitergehen», sagte Guerrini, als sie in die Via degli Alberi einbogen. «Könnte sein, dass Piselli sonst auf uns schießt.»
«Warum haben Sie ihn denn nicht festgenommen, Commissario? Man kann den Leuten nicht erlauben, auf uns zu schießen. Sie verlieren den Respekt!»
«Dieser Fall liegt anders. Piselli hat nicht aus mangelndem Respekt auf mich geschossen. Er hat mich für einen dieser Geldeintreiber gehalten, und er war verzweifelt!»
«Da hatte er aber verdammtes Glück, dass er auf Sie geschossen hat und nicht auf einen anderen, Commissario.»
Guerrini antwortete nicht. Er stellte den Wagen in der Einfahrt eines kleinen Gehöfts ab und stieg aus. Tommasini folgte ihm. Es war windig, Blätter wirbelten durch die Luft, und ein großer Starenschwarm ließ sich kreischend auf den Telefonleitungen nieder, die kreuz und quer über den Feldern verliefen.
«Wir gehen am besten von hinten an Pisellis Hof heran. Es ist der da vorn, der mit dem großen Nussbaum hinterm Haus.»
Sie pirschten sich an, rückten umsichtig vor, duckten sich hinter Mauern und sprangen schnell zur nächsten Deckung. Sie verständigten sich mit Blicken und grinsten einander zu. Lange hatten sie das nicht mehr getan, und es machte beiden Spaß. Vom Hang hinter dem Wohnhaus der Pisellis hatten sie freien Blick auf den Innenhof. Der Hund war nicht zu sehen, und auch sonst schien alles ruhig zu sein.
Vorsichtig machten sie sich an den Abstieg, zwischen Gemüsebeeten, die Signora Piselli in Terrassen angelegt hatte. Noch immer wuchs Salat in ordentlichen Reihen, Lauch, Weißkraut und Mangold. Eine rotgetigerte Katze starrte sie aus gelben Augen an und huschte davon. Sie rutschten durch Schlamm, und Guerrini musste an den Bauern Bellagamba denken, der sich über ihre Schuhe lustig gemacht hatte.
Endlich erreichten sie die Rückseite des Hauses und trennten sich. Guerrini übernahm den Innenhof, Tommasini umrundete das Gebäude von der anderen Seite. Es war völlig still, als hielten selbst die Tauben auf dem Dach den Atem an. Eben hatten sie noch gegurrt. Als sich Guerrini, eng an die Hauswand gedrückt, seitlich in den Innenhof hineinbewegte, tauchte – wie aus dem Nichts – ein Wagen auf und hielt vor der Treppe, die zur Haustür hinaufführte.
Die tiefstehende Sonne schien genau in Guerrinis Augen, er konnte nur die Umrisse eines Mannes erkennen, der schnell aus dem Wagen sprang und die Stufen hinauflief. Der Hund raste zweimal an seiner Oberleitung über den Hof, bellte aber nur kurz und verzog sich wieder in seine Hütte. Seltsam, dachte Guerrini. Danach war es wieder still. Es war keine gute Stille, eine, in der das Atmen schwerfiel, ohne dass Guerrini wusste, weshalb.
Er schlich weiter. Der Hund bemerkte ihn nicht. Als der Commissario die Treppe erreicht hatte, schrie drinnen Angela Piselli, beinahe gleichzeitig fiel ein Schuss, der wie eine Explosion klang. Die Haustür wurde aufgerissen, und jemand rannte die Stufen herunter, genau auf Guerrini zu, den wieder die Sonne blendete. Er fand keinerlei Deckung, riss seine Waffe hoch und rief «Stehen bleiben!», wusste gleichzeitig, dass er keine Chance hatte, falls nicht Tommasini …
Er hörte den Schuss, ehe er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schoss ebenfalls, jedenfalls meinte er zu schießen, spürte einen Schlag, sah den Hund, der an der Oberleitung hängend durch die Luft zu laufen schien, und hörte einen aufjaulenden Motor – ein riesiger Kühler kam in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu. Er riss einen Arm vor sein Gesicht, rutschte an der Hauswand herunter, fühlte einen zweiten Schlag, bekam keine Luft mehr. Der Hund schien Flügel zu haben. Er flog hin und her und ganz hinauf in die Sonne. Guerrini schloss die Augen. Das war besser als die Sonne und der fliegende Hund. Aber er bekam noch immer keine Luft. Irgendetwas lief an ihm
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