Nachtgespenster
der Schwäche des Burgherren weiden. Du hast es versprochen, kleine Tochter, aber du hast dein Versprechen nicht gehalten, und das finde ich sehr schlimm. Ich kann nicht mehr länger warten, Doreen. Noch eine Nacht oder zwei, dann ist die Schwäche so groß, daß es mir Mühe bereitet, mich auf den Beinen zu halten. Schon jetzt setzt mir das Tageslicht immer mehr zu. Es scheint durch die dicken Mauern zu dringen, so daß es mein geliebtes Mondlicht immer schwerer hat, diese Schwäche auszugleichen. Ich brauche Blut!« brüllte er seine Tochter an. »Und ich brauche es bald. Sonst ist alles zu spät.«
Doreen nickte. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihren Vater zu beruhigen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er war wie ein Tier, das in einem Käfig steckte und keinen Ausweg mehr sah.
»Hast du gehört, Tochter?«
»Ich… ich… konnte es nicht. Nein, nicht in dieser Nacht. Ich war unterwegs…«
Sein scharfes Lachen unterbrach sie. »Willst du damit sagen, daß du keinen Menschen gesehen hast?«
»Ja, das will ich. Ich habe keinen gesehen.«
Kaum hatte Doreen die Antwort gegeben, als der Vampir einen Schritt nach vorn trat. Einen sehr langen sogar, und Doreen schrak zusammen. Unwillkürlich zog sie den Kopfe ein, aber sie ging nicht zurück, denn auch der Vampir war stehengeblieben.
»Du lügst mich an. Meine eigene Tochter lügt mich an! Du willst, daß ich hier verrecke…«
»Nein, ich lüge nicht.«
»Doch!« brüllte er. »Du bist eine verfluchte Lügnerin. Ich kann es riechen, daß du in der Nähe eines normalen Menschen gewesen bist. Du hast etwas von seiner Aura mit in diese Gruft hineingebracht.« Für einen Moment stoppte er seinen Redefluß und fuhr mit der Zungenspitze rollend über die Lippen hinweg. »Der Geruch des menschlichen Fleisches und auch Blutes ist an deiner Kleidung. Du kannst mir nichts mehr erzählen, und ich hasse deine verfluchten Lügenmärchen, Doreen.«
»Wenn ich dir doch sage, daß ich…«
»Nichts mußt du mir sagen, gar nichts.« Er hielt es nicht mehr aus und war plötzlich bei ihr. Seine Hände griffen zu. Im flackernden Kerzenlicht sahen die Finger noch länger und gelblicher aus. Als wären die Knochen mit verwesendem Fleisch überzogen worden. Nägel wie Krallen wuchsen hervor. Sie drückten durch den Kleiderstoff. Doreen spürte sie wie kleine Messerspitzen auf ihrer Haut.
Die Finger des Blutsaugers hatten sich regelrecht im Stoff verbissen.
Sie ließen nicht los und drückten Doreen nach hinten. Fort aus dem Bereich des Lichts.
Hart schlug sie gegen die Wand. Stiche zuckten durch ihren Hinterkopf. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie spürte selbst als Vampir eine schon menschliche Angst. Ihr Vater war in seinem Wahn unberechenbar.
Doreen hatte Glück. Der Unhold hielt sich zurück. Er preßte sie nur mit dem Rücken gegen die kalte Wand und schüttelte sie mehrere Male heftig durch.
Reden konnte sie nicht mehr. Ihr Mund war trocken. Ihr fielen auch keine Worte ein, und sie sah nur das schreckliche Gesicht des Blutsaugers vor sich. Diese schattenhafte und gelbliche Fratze.
»Es war die fast letzte Nacht, in der du mich reingelegt hast. Ich will mein Opfer haben, verstehst du das? Ich gebe dir noch einen Tag Zeit, damit du dir den Menschen aussuchen kannst. Einen Tag, den ich im Dunkeln verbringen werde. Wenn die Sonne gesunken ist, erwarte ich dich hier im Schloß zum Ball der Nachtgespenster. Hast du das alles verstanden, Doreen?«
Sie schüttelte den Kopf, wobei sie gleichzeitig das Gegenteil sagte. »Ja, das habe ich verstanden.«
»Gut, sehr gut.« Er sprach nicht mehr. Er glotzte sie nur an. Sein Geruch hatte sich ebenfalls verändert. Der Earl of La Monte roch fauliger. Teile von ihm mußten bereits der Verwesung anheimgefallen sein. Deshalb dieser eklige Gestank, den auch eine Person wie Doreen empfand.
Der Earl ließ sie los. Er ging zurück. Er trat gegen den Kerzenständer, der umkippte, über den Boden rutschte und schließlich liegenblieb, als die kleinen Flammen erloschen waren.
Mit einer wütenden Bewegung drehte sich der Wiedergänger herum. Sein Mantel flog hoch. Das sah Doreen allerdings nicht, weil die Dunkelheit schon zu tief war. Sie bekam nur den Luftzug mit, den der flatternde Stoff hinterließ.
Der Earl of La Monte eilte durch die Finsternis der Treppe entgegen. Doreen sah ihn nicht. Sie orientierte sich nur anhand seiner Schritte, die mit steigender Stufenzahl immer leiser wurden und schließlich verklangen.
Sie hörte noch,
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