Nachtgespenster
lag, wie zur Besichtigung freigegeben.
Der Sarg war offen. Sein Oberteil war irgendwo im Hintergrund hochkant gegen die Wand gestellt worden. Auch aus dem Sarg erreicht Doreen dieser Geruch oder Gestank, der sich aus den allmählich vor sich hinfaulenden Blumen zusammensetzte und sich mit dem mischte, den die verwesende Leiche abgab.
Rose La Monte lag unter dem Meer von Blumen versteckt. Doreen mußte schon genau hinsehen, um überhaupt etwas von ihr zu sehen. In der vergangenen Nacht war sie nicht bei ihr gewesen. So hatten die Blumen stärker dahinwelken können und waren an bestimmten Stellen zusammengefallen.
Rose La Montes Hände lagen auf der Brust verschränkt. Durch das Verrutschen der Blumen war eine wieder zum Vorschein gekommen. Brüchige Haut, knochige Finger, an deren Kuppen die Haut teilweise aufgeplatzt war, so daß Knorpelknochen zu sehen waren. Nichts bewegte sich auf dem Sarg. Der Geruch fauliger Rosen stieg in die Nase der jungen Frau. Sie bewegte sich auf das Kopfende des Sargs zu. Unter ihr war die Erde weich geworden, denn sie trat immer wieder auf die vor sich hinfaulenden Blumen, von denen bereits zahlreiche zu Kompost geworden waren.
Der dreiarmige Kerzenleuchter in ihrer rechten Hand zitterte. Es übertrug sich ebenfalls auf die Flammen, die ihren flackernden Schein verbreiteten.
Das Gesicht der Mutter war nicht zu sehen. Nur ein Teil der Haare. Sie konnten mit denen eines normalen Menschen auch nicht verglichen werden, denn auf dem Kopf waren sie regelrecht zusammengesackt und hatten braue Knäuel gebildet. Darin schimmerten leuchte Tropfen. Es hatten sich auch Strähnen bilden können. Sie lagen naß und blank zwischen den kraftlosen Knäueln.
Doreen bückte sich. Mit der freien Hand faßte sie nach den Blumen, die das Gesicht verdeckten. Sie fühlten sich naß und fettig zwischen ihren Fingern an, als sie die Reste zur Seite schob, damit sie freie Sicht bekam.
Bis zum Kinn lag das Gesicht der Mutter frei. Aber es war nicht mehr das Gesicht, wie sie es kannte. Es hatte das Leben und auch seine Menschlichkeit verloren. Die Zeit hatte es zu einer Fratze oder zu einem Horror-Gebilde werden lassen.
Die Nase war noch vorhanden, wenn auch leicht wie weggefressen wirkend. Es gab keine Lippen mehr. Ein offenes Loch starrte der Betrachterin entgegen.
Auch die Augen konnten mit denen einer lebenden Person nicht verglichen werden. Sie waren so kalt, so leer. In den Höhlen konzentrierte sich nur eine Masse und nichts anderes. Ein farbloser Schleim, der wie festgebacken wirkte.
Hinzu kam der Gestank. Stinkend wehte er von der toten Person in die Höhe und gegen das Gesicht der jungen Frau.
Doreen schüttelte sich. Es war wie immer. Bei jedem Besuch mußte sie sich erst an den Anblick ihrer Mutter gewöhnen.
Sie beugte sich noch tiefer. Es sah aus, als wollte sie dieses schreckliche Gesicht küssen. Dann drückte sie den Kopf leicht zur Seite. Ebenso ihren Oberkörper.
Doreen stellte nun den Kerzenständer ab. Das vom Boden hochsteigende Licht reichte ihr aus.
Sie blieb neben dem offenen Sarg in Kopfhöhe stehen. Den Blick richtete sie nach unten, als sollte ihr kein Detail verborgen bleiben.
Dabei verschränkte sie die Hände wie zum Gebet. Eine Vampirin, die betete. Ein Novum. Etwas, das einfach nicht passen konnte. Es war bei ihr auch mehr eine Geste. Möglicherweise eine der Verlegenheit, um die Hände ruhiger halten zu können.
Einige Sekunden ließ Doreen La Monte verstreichen, dann deutete sie ein Nicken an und fing an zu sprechen. »Hallo, Mutter. Ich bin wieder hier. Ich habe dich nicht vergessen, wie du siehst…«
Rose La Monte blieb stumm. Sie war tot, sie war kein Zombie, der plötzlich erwachte, weil er frisches Menschenfleisch gerochen hatte.
Doreen kümmerte sich nicht um die Stummheit. »Ich wollte fragen, Mutter, wie es dir geht. Gut? Geht es dir gut…?« Sie wartete ab. Ihr Gesicht zeigte einen gespannten Ausdruck. Dann tat sie so, als hätte sie von ihrer toten Mutter eine Antwort erhalten. »Ah, ja, das ist schön. Du freust dich, daß es mir gutgeht.« Sie lachte. »Dabei habe ich gar nicht gesagt, daß es mir gutgeht, Mutter. Weißt du, mir geht es nämlich nicht so gut…«
Wieder wartete sie ab. »Warum nicht, fragst du?« Pause.
Dann: »Ich will es dir sagen, Mutter, ja, du sollst es hören, und du wirst mich auch bestimmt verstehen.« Die Stimme hörte sich jetzt schwer an, als litte sie unter einer großen Last. »Du wirst begreifen, daß ich noch immer
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