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Nachtgieger

Nachtgieger

Titel: Nachtgieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Maria Dries
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Schubladen des alten Büroschreibtischs, der ihm als Ladentheke diente, zu öffnen. Wie immer herrschte in ihnen ein Chaos aus Rechnungen, Kontoauszügen, Notizzetteln, Verlagskatalogen und so weiter. Aber irgendwie war das Schubladenchaos anders als sonst. Er war sich ziemlich sicher, dass er den neuen Rowohlt-Katalog gestern Abend in die oberste Schublade geworfen hatte. Jetzt lag der Katalog unter einer Schicht Quittungen. Und auch in den übrigen Schubladen war die Unordnung anders als gestern. Andrea blätterte die Papierhaufen durch, aber da er nicht genau wusste, was alles in den Schubladen zu sein hatte, konnte er auch nicht sagen, ob etwas fehlte. Klar war nur, dass sich jemand an den Schubladen zu schaffen gemacht hatte.
     
    3
    Eine halbe Stunde später kam der Glaser mit der reparierten Tür zurück, noch immer so muffig wie am Mittag. Er verlangte Barzahlung. Nicht ohne Diskussion gelang es Andrea, ihn zur Annahme eines Schecks zu überreden. Als er endlich die Tür hinter dem Handwerker schließen konnte, atmete er seufzend aus. Ruhe kehrte ein.
     
    Sie währte nicht lange. Andrea war kaum zum Tisch zurückgekehrt, als die Tür scheppernd wieder aufsprang und die Ladenklingel ihr rostiges Krächzen von sich gab. Eine sehr blonde Dame kämpfte keuchend mit der Tür und einem leeren Bierträger, den sie schließlich vor Andrea auf den Boden knallte.
    „Einen Kasten Augustiner, bitte“, stieß sie heraus.
    „Hell oder Edelstoff?“
    „Von Edelstoff wird man schneller besoffen, oder? Also Edelstoff.“ Sie fand ihre Wahl so lustig, dass sie ihren Worten ein kreischendes Lachen folgen ließ, das die Flaschen zum Klirren brachte und um einige Phon lauter war, als man es ihrem schmalen Körper zugetraut hätte. Andrea, den exzentrisches Verhalten immer unsicher machte, erschrak und verschwand eilig in den labyrinthischen Gassen zwischen den hoch aufgestapelten Wasser-, Saft-, Spezi- und Bierkisten.
    Eine neue Kundin; Andrea war sich ziemlich sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Denn diese Erscheinung wäre ihm bestimmt in Erinnerung geblieben. Dem hübschen, blassen Gesicht nach zu urteilen, war sie vielleicht Mitte 30. Ihrer Aufmachung nach zu schließen, hätte sie aber auch 20 Jahre älter sein können: die blonden Haare streng nach hinten zu einer Art Dutt gebunden, dazu trug sie ein Kostüm aus beigefarbenem Tweed („Teppichstoff“ hatten sie dazu als Kinder gesagt). Der seltene Fall einer Frau, die sich älter machte.
    Die Blonde schaute sich neugierig im ganzen Laden um, als Andrea zurückkam und ihr den Kasten Edelstoff vor die Füße stellte. „Bier und Bücher. Putzig. Wieso ausgerechnet Bier und Bücher?“
    „Meine Hauptinteressensgebiete“, murmelte Andrea. „Macht 24 Euro mit Pfand.“
    „Haben Sie auch etwas von … äh …“ Sie überlegte. Andrea wusste, was jetzt kam: Sie würde einen Autor nennen, den sie für ausgefallen hielt, um ihn und sein Sortiment auf die Probe zu stellen. Sie war der Typ für so etwas.
    „… äh … von August Stramm?“
    Andrea ging zum Regal und zog das gelbe Reclambändchen heraus. „Nur das hier. Die einbändige Gesamtausgabe aus dem Limes-Verlag kann ich höchstens versuchen, antiquarisch zu bekommen.“
    Sie schien beeindruckt. Er hatte die Probe offenbar bestanden. „Ich habe nämlich über August Stramm meinen Doktor gemacht. Wissen Tören / Wahr und Trügen / Mord Gebären / Sterben Sein“, zitierte sie den alten Postbeamten und Expressionisten.
    „Dann haben Sie die Texte ja sicher alle“, sagte Andrea und stellte das Bändchen zurück.
    „Ist etwas Wertvolles gestohlen worden?“, fragte sie unvermittelt.
    „Wie … was … gestohlen?“, stotterte Andrea überrascht.
    „Bei Ihnen ist doch eingebrochen worden“, stellte die Blonde fest. Sie sah ihm fest in die Augen.
    „Heute Morgen, ja.“ Andrea sah sich im Laden um. Die Spuren des Einbruchs waren beseitigt. „Wie kommen Sie darauf?“
    Sie zögerte. Zog ihren Mund zusammen, schien nach einer Antwort zu suchen.
    „Ich kam heute Morgen schon hier vorbei. Da habe ich die Polizei vor dem Laden stehen gesehen“, sagte sie schließlich. „Ist etwas gestohlen worden?“
    „Nein, soweit ich das feststellen konnte, nicht. Ein Buch. Aber nicht wertvoll. Glaube ich.“
    „Haben Sie denn etwas Wertvolles hier?“
    „Äh … ich glaube … nein, nur Bücher eben. Gut, ein, zwei Gesamtausgaben, die schon mal 200 Euro kosten, aber sonst? Nein, etwas Wertvolles habe ich nicht hier.“

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