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Nachtgieger

Nachtgieger

Titel: Nachtgieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Maria Dries
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auf.“
    Gust hatte die langen Nachtwachen in Versicherungs- und Konzerngebäuden genutzt, sich eine eigenwillige philosophische Bildung anzulesen. Er versuchte stets das, was er meinte, dabei erkannt zu haben, praktisch umzusetzen und anderen zu vermitteln. Und auch wenn sich die Philosopheme aus Gusts bairischem Mund häufig skurril anhörten, musste Andrea zugeben, dass vieles von dem, was er sagte, Hand und Fuß hatte und durchaus bedenkenswert war.
    „Das nächste Mal schlägt dich einer zusammen, sagst du dann auch bloß, war nicht so schlimm, und jetzt will ich meine Ruhe haben?“
    Andrea öffnete eine Flasche Bier und gab sie Gust. „Du hast ja recht. Ich schau mal. Ich bespreche es mit Martin, heute Abend. Okay?“
    Gust hob nur die Flasche, prostete Andrea zu. „Wenn du Hilfe brauchst, sag’s mir.“ Er stellte die Flasche, aus der er kaum getrunken hatte, auf den Tisch. „So, jetzt muss ich zum Dienst. Bis morgen.“
     
    Um 19 Uhr sperrte Andrea den Laden zu und wartete vor der Tür auf Nikki. Zehn Minuten später war sie immer noch nicht da, dafür kam keuchend ein verspäteter Kunde, in einer Plastiktüte klirrten leere Flaschen. Gutmütig sperrte Andrea noch einmal auf und gab ihm seine fünf Flaschen Löwenbräu, und wunderte sich wie schon so oft, warum jemand dieses schlechteste aller Münchner Biere kaufte. Als er zum zweiten Mal die Ladentür zusperrte, sah er Nikki aus dem Bus steigen. Eine heiße Welle lief ihm den Rücken hoch, machte seine Wangen rot. „Scheiße, ich bin verliebt wie ein 15-Jähriger“, dachte er noch, dann hörte er auf zu denken und sah sie nur noch an. Ihren eiligen Gang. Die dunkelblonden Locken, die wild um ihr sommersprossig freches Gesicht wippten. Die Beine, die lang aussahen, obwohl Nikki nicht sehr groß war. Fast rannte sie auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. Dann sagte sie:
    „Ich will mich nicht mit deinen blöden Freunden treffen!“, und sah dabei wie ein trotziges Kind aus.
    „Sind keine ‚blöden‘ Freunde, einfach nur Freunde“, versuchte Andrea es scherzhaft. Ohne Erfolg. Erst als er sie an das verschwundene Buch und das Geheimnis erinnerte, das Martin entdeckt haben wollte, war ihr Widerstand gebrochen.
    Andrea musste noch das Buch, das Martin ihm vor ein paar Wochen mitgebracht hatte, aus seiner Wohnung holen. Er sperrte sein Fahrrad auf, Nikki setzte sich auf die Stange, und unter Kichern und Küssen und Kreischen fuhren sie Richtung Lilienstraße. „Wie die 15-Jährigen“, dachte Andrea glücklich.
    Als sie zehn Minuten später die Wohnung erreichten, waren sie so aufgeladen, dass sie sich sofort zu einer kurzen sexuellen Begegnung ins Bett begaben. Es war schon kurz vor 20 Uhr, als sie wieder angezogen waren. Andrea suchte hektisch das Buch und fand es dann auf dem niedrigen Tischchen neben dem Sofa. Er schlug es kurz auf: „Der Ort der goldenen Käfer“, lautete der seltsame Titel. Andrea steckte es in eine Tasche, dann fuhren sie Richtung Schlachthof in der gleichen Transportanordnung wie vorher, was sie wieder ziemlich geil vor dem Wirtshaus ankommen ließ. Sie drückten noch ein wenig an sich herum, bevor sie das Lokal endlich betraten.
    Das Wirtshaus im Schlachthof, einst zur Verköstigung der im Schlacht- und Viehhof beschäftigten Metzger und Viehtreiber erbaut, diente schon seit vielen Jahren abends als Kneipe für meist Jüngere oder sich noch zu den Jüngeren zählende Ältere; Martin und Andrea waren sich seit Jahren unsicher, zu welcher Kategorie sie zählten. Im Schlachthof wurde diese Unsicherheit nicht virulent, denn dort fand sich immer eine große Zahl ihrer Alters- und Artgenossen.
    In der weitläufigen Gaststube waren weder Martin noch Melitta zu sehen. Andrea sah auf die Uhr: Es war bereits zehn nach 20 Uhr, und Martin war ein Pünktlichkeitsfanatiker.
    „Wahrscheinlich sitzen sie im Biergarten“, meinte Andrea. Das Wetter hatte sich im Lauf des Nachmittags stetig verbessert, und es war ungewöhnlich warm für Mai geworden.
    Der Biergarten des Schlachthofs bestand eigentlich nur aus ein paar Bänken hinter dem Haus, wurde aber von Andrea und Martin wegen seines eigentümlichen Flairs geschätzt: Mindestens alle 15 Minuten kam ein Viehlaster vorbei, der mit seiner muhenden Fracht im neben dem Biergarten liegenden Tor des Viehhofs verschwand. Tatsächlich saßen Martin und Melitta als Einzige an einem der wackligen Biertische, vor sich je ein Helles. Leider gab es, und das war eine ernste Schwachstelle, im

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