Nachtgieger
Schlachthof nur Löwenbräu.
Melitta sah wieder hinreißend aus in ihrem Nadelstreifenjackett mit nichts darunter. Nikki und Martin begrüßten sich steif bis kühl; nicht einmal aus Höflichkeit bekundeten sie Freude oder Interesse daran, sich nach dreimonatiger Pause wiederzusehen. Andrea fühlte sich unbehaglich.
„Hast du die Bücher dabei?“, fragte Martin, als Nikki ihr Pils und Andrea sein Weißbier bestellt hatten. Andrea holte das Käfer-Buch, das Martin vor drei Wochen mitgebracht hatte, aus der Jackentasche und legte es auf den Tisch.
„Nur das eine. Das andere, das du mir gestern gebracht hast, wurde beim Einbruch gestohlen. Ich habe das erst heute Nachmittag gemerkt.“
„Mist“, sagte Martin.
„Einbruch? Bei dir im Laden?“, fragte Melitta.
„Nicht der Rede wert. Nur ein paar Flaschen sind zu Bruch gegangen“, brummte Andrea.
„Und das Buch. Das ist dumm. Saudumm. Denn genau darüber wollte ich mit euch reden. Mir sind nämlich gestern, als ich dieses Buch in Deggendorf gefunden habe, ein paar Dinge aufgefallen. Blöd, dass es jetzt nicht mehr da ist.“
Er sah Andrea böse an.
„Hey, ich habe es nicht gestohlen“, rief dieser und hob übertrieben abwehrend die Hände über den Kopf. Martin musste lachen und trank sein Glas aus.
„Na ja, vielleicht ist ja dieser Diebstahl die Bestätigung dafür, dass hier irgendetwas im Busch ist“, meinte Martin und winkte der Kellnerin, die gerade ihre Nasenspitze aus der Tür des Wirtshauses streckte. Dann kam ein Viehlaster, und für einige Minuten wurde es laut.
Als der Diesel endlich im Viehhof zur Ruhe gekommen war, fragte Nikki im gelangweiltesten Tonfall, der ihr zur Verfügung stand: „Geht’s vielleicht noch geheimnisvoller?“, Andrea legte beruhigend seine Hand auf die ihre, und Martin versuchte, die Bemerkung zu ignorieren.
„Ich finde, Nicola hat recht.“ Melitta zog ihre Augenbrauen zum kritischen Chefblick zusammen. Nikki schaute sie giftig an. Sie hasste es, wenn man sie Nicola nannte. „Könnte uns mal jemand die Geschichte von Anfang an erzählen.“
Martin seufzte. „Heute Nacht oder am frühen Morgen ist in Andreas Laden eingebrochen worden. Nachbarn haben die Polizei gerufen. Ein paar Penner wurden erwischt, als sie sich gerade die Manteltaschen mit Bierflaschen vollstopften. Die Polizei hält jetzt die Penner für die Täter, aber Andrea und ich, wir können uns das nicht vorstellen. Die haben nur die eingeschlagene Tür entdeckt und die Lage ausgenutzt. Zuerst dachte Andrea, es sei nichts gestohlen worden, aber jetzt stellt sich heraus, dass ein Buch, das ich ihm gestern mitgebracht hatte, fehlt. Ein Buch, das genauso aussah wie dieses hier.“
Er deutete auf das Buch, das Andrea vor ihn hingelegt hatte.
„Aber im Inhalt unterscheiden sie sich. Das hier ist Prosa, das verschwundene Buch war ein Lyrik-Band.“ Martin schlug das Buch beim Vorsatzblatt auf.
„Genau. Das ist es, woran ich mich erinnert habe. Beide haben die gleiche seltsame Ortsangabe. Tiflis 1962.“
Er schob das aufgeschlagene Buch über den Tisch, damit sie es alle sehen konnten.
„Wie ihr wisst, liegt Tiflis oder Tbilissi in Georgien, und das heißt seit 1962 in der tiefsten Sowjetunion. Unwahrscheinlich, dass da deutsche Bücher erschienen sind. Noch dazu auf so gutem Papier. Nein – ich glaube eher, dass die Ortsangabe fiktiv ist und das Buch ein Privatdruck. Schon im 18. Jahrhundert wurden solch exotische Erscheinungsorte manchmal verwendet, um der Zensur zu entgehen. Vielleicht wollte der Autor ja ebenfalls etwas verschleiern.“
„Was steht in dem Buch eigentlich drin?“, fragte Melitta. „Habt ihr es schon gelesen?“
Sie schüttelten beide den Kopf. Melitta nahm Martin das Buch aus den Händen, blätterte und begann zu lesen.
Wie es weitergeht, erfahren Sie in:
Michael Kurfer
Die toten Bücher
Kriminalroman
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