Nachtgieger
von ihrer letzten Arbeitsstelle vor der Trennung aus dem Geldbeutel; seit über drei Monaten trug er sie mit sich herum. „Wortschatz Textdienstleistungen Gombrowski & Partner GmbH“ war darauf zu lesen, und darunter „Nicola Lauer, Redakteurin/Editor“. Gleich nach der Trennung hatte er ziemlich oft dort angerufen, bis die Sekretärin oder Empfangsdame, die immer das Telefon abnahm, mit eisiger Stimme verkündete, dass sie keine Verbindung herstellen und weitere Anrufe seinerseits als obszöne Belästigungen zur Anzeige bringen werde. Und das, obwohl er Nikki damals die Stelle verschafft hatte, weil er die Chefin und Besitzerin des Ladens, Carla Gombrowski, gut kannte. Doch nach seinen Telefonaktionen war der Kontakt abgerissen. Andrea hoffte, dass Carla eine neue Empfangsfrau hatte oder die alte wenigstens seine Stimme nach der langen Zeit nicht mehr wiedererkennen würde.
„Wortschatz Gombrowski und Partner, guten Tag“, meldete sich eine männliche Stimme.
Andrea fragte nach Nikki, worauf er in die Warteschleife mit Dudelmusik und „Please-hold-the-line“-Sprechgesang eingespeist wurde. Nach einiger Zeit meldete sich eine Frauenstimme – Andrea konnte nicht sagen, ob es die des Empfangsdrachens von damals war – und bedauerte, dass Frau Lauer bei einem Auswärtstermin sei. Ob er eine Nachricht hinterlassen wolle? Andrea sagte, er werde es später nochmals versuchen, und legte auf. Dann wählte er Martins Nummer und ließ es ziemlich lange läuten.
2
Das Telefon läutete wie immer im falschen Moment. Martin Mathing hatte die Wohnungstür gerade erst aufgesperrt, aber schon von außen den durchdringenden Ton gehört. Den Mädchen, die während des ganzen Heimwegs durch einen Regenguss gestritten hatten, rief er ein hilflos-genervtes „Schluss jetzt“ zu, warf die Wohnungstür mit der Schulter ins Schloss und versuchte gleichzeitig, die Windjacke auszuziehen, deren Reißverschluss mal wieder klemmte. Fluchend nahm er endlich das Telefon ab.
„Ah, Andrea. Kann ich dich gleich zurückrufen. Bei mir ist gerade Chaos.“
„Und bei mir erst. Im Laden ist heute Nacht …“
Den Rest von Andreas Satz hörte er nicht mehr, denn das Kindergeschrei war zum zweistimmigen Sirenengeheul angeschwollen. Martin warf das schnurlose Telefon auf den Tisch und stürmte in die Küche. Maja hatte sich den letzten Vanille-Joghurt aus dem Kühlschrank genommen, und Mara wollte sich nicht mit Erdbeere zufriedengeben. Martin schlichtete den Streit, indem er den Vanille-Joghurt auf zwei Schälchen aufteilte; dann war erst mal Ruhe. Er wollte gerade die Schultaschen aufräumen, die die Zwillinge achtlos in den Flur geworfen hatten, als er sich an das Telefon erinnerte. Andrea war immer noch dran.
„Sorry, aber die Mädchen gehen heute zu einem Kindergeburtstag, darum musste ich sie schon abholen.“ Normalerweise blieben sie bis 16 Uhr im Hort.
„Bei mir ist heute Nacht eingebrochen worden!“, platzte Andrea heraus. Seiner Stimme war anzumerken, dass er nur wenig Aufmerksamkeit für die häuslichen Probleme seines Freundes aufzubringen imstande war. „Eingebrochen? Im Laden oder in deiner Wohnung? Wurde was gestohlen?“ Martins Fragen waren trotz Stress und Überraschung präzise wie immer.
„Im Laden. Soweit ich bisher sehe, ist außer ein paar Flaschen Bier nichts gestohlen worden. Die Polizei hat ein paar Penner dabei erwischt, wie sie Bier aus dem Laden geholt haben, und hält sie deshalb für die Einbrecher. Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber ich weiß auch nicht, wer sonst ein Interesse an ein paar Flaschen Bier haben sollte.“
In der Küche stieg der Geräuschpegel langsam wieder an. Der Joghurt hatte den Zwillingen nur vorübergehend das Maul gestopft. Martin versprach Andrea, vorbeizukommen, sobald er die Mädchen bei der Geburtstagsfeier abgeliefert hatte. Er legte auf und lief in die Küche, um Nudelwasser aufzusetzen, und scheuchte die Kinder in ihr Zimmer, damit sie ihre Hausaufgaben machten. Martin wusste, dass es ein Fehler gewesen war, sie vor dem Essen den Joghurt aufmachen zu lassen (sie hatten auch noch den mit Erdbeergeschmack gemeinschaftlich verputzt, wie rötliche Tropfen auf dem Tisch dokumentierten). Die Mädchen würden jetzt schon nach wenigen Gabeln keinen Appetit mehr auf die Nudeln mit Tomatensoße haben, das Essen stehenlassen und in zwei Stunden über Riesenhunger jammern. Zum Glück musste er sich das dann nicht anhören, sondern die unglückliche Mutter des
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