Nachtglut: Roman (German Edition)
das Glöckchen über ihn in bimmelnde Bewegung und trat hinaus. Er setzte seinen Hut auf, um seine Augen vor der Morgensonne abzuschirmen. Die Hitze des Betons brannte unter seinen Stiefeln, als er zu seinem Lincoln ging. Die Flagge am Mast vor dem Rathaus hing schlaff in der heißen, windstillen Luft. Auf der Grünanlage vor der alten Kanone aus dem Bürgerkrieg spie mit rhythmischem Klicketi-Klack ein Rasensprinkler einen dünnen Sprühregen, der verdampfte, noch ehe das Wasser zur Erde fiel.
Im Wagen war es so heiß wie in einem Backofen. Ezzy schaltete die Zündung ein, um die Klimaanlage in Gang zu bringen. Das erste, was er aus dem Radio hörte, waren die Nachrichten. Immer noch lief die Großfahndung nach Carl Herbold und Myron Hutts, die kürzlich aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Tucker, Arkansas geflohen waren. Sie wurden jetzt der Morde an einem Tankstellenbetreiber und seiner Tochter verdächtigt.
»… eine Spur blutiger Gewalt, deren erste Opfer zwei Gefängniswärter waren. Alles deutet darauf hin, daß der Doppelmord, der vergangene Nacht in dem Dorf Hemp in Louisiana verübt wurde, auch auf ihr Konto geht.«
Ezzy drehte das Radio leiser. Er wollte nicht noch einmal von der Vergewaltigung und der Ermordung eines vierzehnjährigen Mädchens hören. Die ganze Geschichte hatte er schon im Fernsehen mitgekriegt. Der Mann war in der Tankstelle von seiner Frau gefunden worden. Sie hatte sich auf die Suche nach ihm gemacht, als er und die Tochter nach einem abendlichen Schlagballspiel in einem Nachbardorf nicht nach Hause gekommen waren.
Die Leiche des Mädchens wurde erst bei Tagesanbruch entdeckt. Ein Lieferwagenfahrer auf der ersten Etappe seiner täglichen Route hatte sie in einem Straßengraben liegen sehen. Vorläufigen Berichten zufolge war sie vergewaltigt worden, ehe sie durch einen Schuß in den Hinterkopf starb.
Ezzy fuhr ziellos durch die Straßen, weil er nicht in sein leeres Haus zurückwollte. Er fragte sich, ob wirklich Carl diesen Mann und seine Tochter auf dem Gewissen hatte, und wenn ja, ob er so stolz auf seine Tat war wie damals, als Ezzy vor mehr als zwanzig Jahren in dem Gefängnis in Arkansas mit ihm gesprochen hatte. –
»Na so was! Ezzy, der barmherzige Samariter«, hatte Carl hinter Gittern gespottet. »Haben Sie die weite Fahrt gemacht, nur um mich zu besuchen?«
In dem leuchtendorangeroten Overall hatte er so blendend ausgesehen wie eh und je. Sein Lächeln hatte sogar noch draufgängerischer gewirkt – möglicherweise fand er seine Untaten besonders schneidig.
Ezzy hatte sich von dem falschen Charme nicht ködern lassen. »Sie sind drauf und dran, im Morast zu versinken, Carl, und um Ihren Hals hängt ein Mühlstein.«
»Ja, gut, ich geb zu, ich hab schon bessre Tage gesehen, Sheriff. Die haben echt beschissene Gefängnisse hier oben, in Arkansas, das kann ich Ihnen sagen! Das Essen ist saumäßig. Die Latrine stinkt. Die Matratze ist klumpig. Überhaupt nicht lustig.«
»Daran werden Sie sich wohl gewöhnen müssen, Carl.«
»Ne, ich hab ’n guten Anwalt. Pflichtverteidiger, aber echt auf Draht. Irgendwo aus dem Norden. Hat ’n Pferdeschwanz und ’n Ohrring. Dem stinkt das System auch. Besonders hier unten im schönen Süden. Für den sind alle Beamten blöd und korrupt, und ich denke, er hat recht. Er sagt, die können mich vielleicht wegen dem Überfall drankriegen, aber nicht wegen Mord. Da haut er mich raus. Das war ein Unfall.«
»Ach, tatsächlich?«
»Hören Sie mal, der Kerl hätt meinen großen Bruder umlegen können. Entweder ich knall ihn ab, oder ich schau zu, wie Cecil stirbt.«
»Sparen Sie sich das für die Geschworenen, Carl.«
Carls Gesicht war hart und wütend geworden. Die braunen Augen sprühten. »Ich geh nicht wegen Mord in den Knast, Sheriff! Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben. Ich bin nicht in den Laden rein, um jemanden umzulegen.«
»Tja, selbst wenn es den Leuten hier in Arkansas nicht gelingt, Sie zu überführen, werden Sie für lange Zeit hinter Gitter bleiben.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Wenn Sie hier davonkommen, werden Sie sich in Texas wegen Patsy McCorkle verantworten.«
»Was? Wegen dieser dicken Kröte?« –
Lautes Hupen holte Ezzy in die Gegenwart zurück. Als er sah, daß die Ampel auf Grün geschaltet hatte, winkte er dem anderen Fahrer entschuldigend zu. Des Herumirrens müde, schlug er den Weg zu dem Viertel ein, in dem er und Cora fast ihr ganzes gemeinsames Leben lang gewohnt
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