Nachtglut: Roman (German Edition)
lebst du eigentlich? Wir sind hier in Amerika. Mit einer Verfassung, die unsere Rechte schützt. Unschuldig, solange die Schuld nicht erwiesen ist, oder hast du das vergessen? – Morgen, Ezzy.«
Die Stammgäste im Busy Bee am Stadtplatz hechelten wie üblich die heißeste Nachrichtenstory des Tages durch. Ganz gleich, welcher Art die Neuigkeit war – sie pflegten sie so gründlich zu zerpflücken wie die Gourmetköche im Fernsehen einen Salatkopf. Und immer auch pflegten sie über gewisse Punkte der jeweiligen Meldung zu streiten, sei es über allgemeingültige Prinzipien, abstrakte Vorstellungen oder irgendwelche faktischen Nebensächlichkeiten. An diesem Tag schien sich die Diskussion auf die Nebensächlichkeiten zu konzentrieren.
Jeden Morgen versammelte sich eine Clique alter Männer in dem Café. Namen und Gesichter änderten sich von Generation zu Generation, ebenso wie die Themen, die zur Debatte standen. Kriege waren geführt, gewonnen und verloren worden. Kontroversen waren aufgebrochen und begraben worden. Staatsmänner und Berühmtheiten waren gepriesen, beschimpft und vergessen worden. Aber die rituelle Morgenrunde überdauerte alles. Es war beinahe so, als
erwüchse jedem Mann, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hatte, die Pflicht, sich im Busy Bee einzustellen. Sobald der eine das Zeitliche segnete, nahm der nächste seinen Platz ein. Die Aufrechterhaltung der Tradition war lebenswichtig für die soziale Ordnung in Blewer.
Manchmal saßen sie, die meisten von ihnen Ruheständler mit zuviel Zeit, noch mittags da, nachdem sie von Kaffee auf Eistee umgestiegen waren, und vertraten hitzig ihre Standpunkte.
Ezzy hatte diese alten Männer immer ziemlich erbärmlich gefunden. Sie hatten in seinen Augen nichts Besseres zu tun, als ihre Meinung, um die sie keiner gebeten hatte, zu Fragen, die sie nichts angingen, Leuten aufzudrängen, die keinen Deut besser informiert waren als sie selbst. Kurz und gut: Übriggebliebene, die sich einzureden versuchten, sie wären nützliche Mitglieder der Gesellschaft – der es zur Ehre gereichte, sie zu unterhalten, bis sie starben.
Als er sie jetzt begrüßte, wurde ihm bewußt, daß die meisten jünger waren als er.
»Was führt Sie denn heute morgen hierher?« fragte einer.
»Kaffee, bitte, Lucy«, sagte er zur Bedienung, bevor er auf die Frage einging. »Coras Schwester in Abilene ist krank. Sie will sie für eine Weile pflegen.«
Mehr noch als diese alten Männer, die täglich im Café herumlungerten und Ansichten zum besten gaben, die keinen interessierten, haßte Ezzy Lügner. Mochte kommen, was da wollte, niemals würde er sich der Clique im Busy Bee anschließen. Aber er war zum Lügner geworden. Er belog sogar sich selbst. Vor allem sich selbst.
Denn er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – die nackte Wahrheit war, daß Cora ihn nach über fünfzig Jahren Ehe verlassen hatte. Hilflos mußte er zusehen, wie sie ihren Koffer packte, ihn zusammen mit einigen Fotos von Kindern und Enkelkindern im Wagen verstaute und davonbrauste. Sie war fort.
Aber er versuchte unaufhörlich, sich einzureden, es sei nur eine vorübergehende Trennung. Wie sollte er den Rest seines Lebens ohne sie verbringen?
»Sie sind also Strohwitwer?«
»Sieht so aus«, antwortete er.
»Möchtest du auch ein Frühstück zum Kaffee, Ezzy?«
Er kannte Lucy schon seit der Grundschule. In der High-School war er mit ihrem späteren Mann, den sie ziemlich früh durch einen grauenhaften Unfall beim Holzfällen verloren hatte, in einer Footballmannschaft gewesen. Er hatte der Beerdigung ihres Sohnes beigewohnt, der in Vietnam fürs Vaterland gefallen war.
Mit den Jahren waren Lucys Hüften breiter geworden und die toupierten Haare höher; aber unter der dicken Schminke, die sie jeden Morgen auftrug, um die Spuren des Schmerzes und des Alters zu verbergen, war sie immer noch dieselbe Lucy, der er in der dritten Klasse gezeigt hatte, wie man einen Baum hinaufkletterte.
Zwei Tage hintereinander hatte er Cornflakes zum Frühstück gegessen. Das Wasser lief ihm vom Duft des warmen Essens, der aus der Küche kam, im Mund zusammen. »Hast du vielleicht Brötchen und Soße da?«
»Hab ich doch immer.«
Er setzte sich auf einen Hocker am Tresen und wandte dem Tisch mit den alten Männern den Rücken zu, in der Hoffnung, sie würden dann nicht versuchen, ihn ins Gespräch zu ziehen. Aber das schlug fehl.
»Haben Sie schon von der Entführung und den zwei Morden gehört, Ezzy?«
»Wie
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