Nachtglut: Roman (German Edition)
bimmelte nicht mehr, aber nur zum Spaß hatte Anna ihn zuvor sicher nicht angeschlagen.
Jack nahm David wieder bei der Hand, und sie hasteten durch den Wald zum Haus. Es begann zu dämmern. Sie mußten durch Mückenschwärme hindurch; aber sie liefen so schnell, daß die Insekten nicht dazu kamen, auf ihnen zu landen. Jack stolperte über eine Wurzel und zog David beinahe mit sich zu Boden.
»Alles in Ordnung?« rief er dem Jungen zu, als er wieder auf den Füßen stand.
»Ja, alles in Ordnung.«
Die schwere, feuchte Luft machte das Laufen nicht leichter. Als sie die Lichtung erreichten, rang Jack um Atem. Er blieb stehen und sah voll Sorge zum Haus hinüber. Kein Rauch. Vielleicht ein Feuer im Haus oder Stall? Nach den langen Tagen ohne Regen war alles strohtrocken. Ein einziger Funke konnte da einen gefährlichen Brand entfachen.
Er war erleichtert, als seine erste Befürchtung sich nicht bewahrheitete – aber irgend etwas Erschreckendes mußte geschehen sein, und er wußte immer noch nicht, was. Nun
ließ er Davids Hand los und sprintete den Rest des Wegs zum Haus, rannte die kurze Treppe hinauf und stürzte durch die Tür.
»Anna? Delray? Wo seid ihr? Was ist passiert?«
Er lief zum Wohnzimmer, aber es war leer. Als er sich umdrehte, stieß er so heftig mit Anna zusammen, daß sie beinahe gefallen wäre. Im letzten Moment hielt er sie bei den Schultern fest.
»Was ist los?«
Sie wies ihn nach oben.
Jack rannte zurück, um das Treppengeländer herum und sprang, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Innerhalb von Sekunden war er im ersten Stock. Delray lag im Flur, einige Schritte von der Tür zu seinem Schlafzimmer entfernt.
Jack kniete neben ihm nieder. Der alte Mann war bewußtlos. Jack suchte die Halsschlagader. Kein Puls.
»Scheiße! Stirb uns jetzt bloß nicht weg!« Er hockte sich rittlings über Delrays Hüften und begann mit Wiederbelebungsversuchen. Er hörte Anna und David durch den Flur kommen.
»David?«
»Was ist mit Opa?« Der kleine Junge weinte.
»Frag deine Mutter, ob sie neun-eins-eins angerufen hat.«
»Sie sagt, ja, Jack.«
Anna kniete auf Delrays anderer Seite nieder. Jack sah sie an. »Der Notruf?«
Sie nickte.
»Gut. Gott sei Dank!«
Denn wenn nicht sehr schnell Hilfe kam, würde Delray es nicht schaffen.
Der Arzt war vorsichtig. Er wollte Delrays Zustand nicht beschönigen, aber wollte die Angehörigen auch nicht unnötig beunruhigen.
»Die ersten Untersuchungen zeigen mehrere Verschlüsse, von denen jeder für sich sehr ernst genommen werden muß. Der Blutdruck ist kritisch. Unsere erste Aufgabe ist es, ihn zu senken und Ihren Schwiegervater zu stabilisieren.«
Seine Diagnose wurde Anna von einer Dolmetscherin übermittelt. Sie hieß Marjorie Baker. Ihre beiden Eltern waren gehörlos gewesen, so daß sie als allererstes die Gebärdensprache erlernt hatte. Sie war ausgebildete Dolmetscherin und Erzieherin für Gehörlose. Daher kannte sie Anna. Sie hatte sie unterrichtet und war später ihre Freundin geworden.
Neben ihrer Lehr- und Verwaltungstätigkeit an den staatlichen Schulen setzte sich Marjorie Baker für die Belange der Gehörlosen in den ländlichen Gemeinden von Osttexas ein. Im Gegensatz zu den Krankenhäusern in den größeren Städten hatte dieses hier noch keine Fernschreibanlage für Gehörlose. Deshalb wurde gleich nach Delrays Einlieferung Marjorie Baker benachrichtigt. Sie war sofort gekommen, ruhig und voll Anteilnahme. Jack mochte sie auf Anhieb.
»Was geschieht, wenn es gelungen ist, seinen Zustand zu stabiliseren?« fragte sie jetzt, Annas Handzeichen übersetzend.
Taktvollerweise richtete der Arzt das Wort direkt an Anna. »Dann muß unbedingt ein Bypass gelegt werden. Alternativen zu einer Operation, wie Angioplastik, kommen leider nicht mehr in Frage.«
»Können Sie das hier machen?« fragte Marjorie.
»Die Operation?« Als Anna nickte, sagte er: »Nein, Madam. Ich bin Kardiologe, nicht Herzchirurg. Aber ich kann Ihnen mehrere hervorragende Chirurgen in Houston oder Dallas empfehlen. Ganz gleich, für wen Sie sich entscheiden, wir werden dem Kollegen einen genauen Krankheitsbericht und alle anderen Unterlagen umgehend zukommen lassen. So handhaben wir das immer. Wir werden Ihnen die
Formalitäten einer Überweisung soweit wie möglich erleichtern.«
»Machen Sie sich wegen eventueller Ungelegenheiten für mich keine Gedanken«, übersetzte Marjorie Annas Zeichen. »Ich möchte, was für meinen Schwiegervater das Beste
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