Nachthaus
Nachtschicht, täglich zu einer anderen Uhrzeit. Aber die früheste Runde wurde nie vor acht oder neun Uhr abends gedreht, und bis dahin waren es noch Stunden.
Silas entdeckte ein nasses rotes Ausrufezeichen auf dem Fußboden in der Nähe eines der Stühle am Bedienpult. Er kniete sich hin, um sich den Fleck genauer anzusehen. Ein zwei einhalb Zentimeter langer Strich aus Blut und am Ende ein Punkt. Erst vor so kurzer Zeit vergossen, dass die Luft noch nicht begonnen hatte, es an den Rändern verkrusten zu lassen oder einen dünnen Film darauf zu bilden. Außerdem lag in dem Ausschnitt für die Knie unter dem Computerarbeitsplatz der Waffengurt des Wächters samt Halfter und Pistole.
Silas merkte, dass sein Mund trocken geworden war und er schnell und flach durch den Mund atmete, vielleicht schon, seit er den Stimmen im Aufzugschacht gelauscht hatte. Er konnte ein Trommeln hören, die Urwaldtrommel seines Herzens in der wilden tiefen Dunkelheit seines Brustkorbs, rasche Schläge, aber noch nicht panisch.
Nur die Rauchmelder in jedem Raum und in jedem Flur oder der Wachmann an seinem Computer konnten im ganzen Gebäude einen durchdringenden Feueralarm auslösen. Als eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung war der Computer mit dem Notstromgenerator verbunden, für den Fall, dass die städtische Stromzufuhr versiegte, ehe Alarm geschlagen werden konnte.
Silas wusste nicht, wie man den Computer zu diesem Zweck nutzte, aber er war sich sicher, dass Tom Tran es hinkriegen würde. Er begab sich an die Tür der Hausmeisterwohnung nebenan und läutete. Er hörte die Folge von sieben Tönen durch die Räume hallen, doch obwohl er dreimal läutete, machte ihm niemand auf.
Der Flur im Keller sah nicht anders aus als sonst auch, aber er kam ihm anders, etwas kam ihm falsch vor. Die Decke sackte nicht hinunter und die Wände bogen sich nicht, doch Silas fühlte eine gewaltige Last auf dem Gebäude, als drückten das Unwetter und der Himmel hinter dem Unwetter und das Universum, das der Himmel war, allesamt auf das Pendleton, ein so furchtbares Gewicht, dass das Gebäude darunter zertrümmert würde. Und die Trümmer würden zu Staub zerfallen.
Obwohl die Phase seiner Berufspraxis, in der er sich auf Strafverteidigung spezialisiert hatte, schon sehr viele Jahre zurücklag, hatte Silas sein intuitives Gespür für Verschleierung und finstere Absichten nicht eingebüßt. Mr. Dime hatte keinen verstohlenen Eindruck erweckt; er hatte sogar im Gegenteil die Ausstrahlung eines Mannes gehabt, der in aller Öffentlichkeit seinen rechtmäßigen Geschäften nachgeht, aber Silas konnte sich keinen Grund dafür denken, weshalb einer der Bewohner jemals den Versorgungskeller aufsuchen müsste.
Da seine Gewissheit wuchs, dass nicht etwa die Zeit knapp wurde, sondern dass jeden Moment ein unbegreifliches Unheil, das der Zeit zugestoßen war, über das Pendleton hereinbrechen würde, musste Silas unbedingt ins Erdgeschoss zurückkehren und Padmini Bahrati fragen, ob sie wusste, wo Tom Tran war, oder ob sie einen Feueralarm auslösen konnte.
Aber vorher sah er sich gezwungen, in den Wachraum zurückzukehren und die zurückgelassene Pistole des Wachmanns an sich zu nehmen. Er war seit zehn Jahren nicht mehr auf einem Schießstand gewesen. Er wollte keine Waffe benutzen, aber die Dinge entwickelten sich eben nicht immer so, wie es einem lieb war. Er nahm auch die Dose Pfefferspray und die Taschenlampe aus dem Waffengurt. Dann trat er wieder auf den Gang hinaus und eilte zur nächsten Tür links. Sie war nicht abgeschlossen. Er betrat den Versorgungsraum.
* * *
Winny
In der Küche saß Iris am Frühstückstisch und hielt das Häschen mit den Schlappohren eng an ihre Brust gepresst, wiegte sich auf ihrem Stuhl und flüsterte dem Stoffhasen Worte zu, die Winny nicht verstehen konnte, die sie aber ständig wiederholte.
Etwas an dem Mädchen – Winny war sich nicht sicher, was es war – löste bei ihm den Wunsch aus, mutig zu sein. Es lag nicht daran, dass Iris hübsch war, und das war sie. Obwohl Winny seinem Alter in vieler Hinsicht voraus war, war er noch zu jung, um sich für Mädchen zu interessieren. Da sie drei Jahre älter war, wäre sie ohnehin zu alt für ihn. Es konnte zum Teil daran liegen, dass sie Bücher brauchte und er Bücher brauchte und dass, im Gegensatz zu den meisten Menschen, die gern in ihren Klubs darüber redeten, welche Bücher sie lasen, weder Iris noch Winny über das sprachen, was sie lasen – in ihrem Fall,
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