Nachthaus
uns mit anderen Menschen zusammentun. Es muss etwas dran sein, dass man zu mehreren sicherer ist.«
»Gary Dai ist in Singapur«, sagte Winnys Mom.
Die untere Etage von Mr. Dais zweistöckiger Wohneinheit lag neben ihrer Wohnung. Er war ein Software-Guru und legendä rer Entwickler von Computerspielen und hätte daher vielleicht gewusst, was hier vorging und wie man sämtliche Spielebenen lebend überstand. Es war ihr Pech, dass er sich ausgerechnet dann am anderen Ende der Welt aufhielt, als die Münze in den Schlitz fiel und es losging.
»Die Leute nebenan besuchen ihren Enkel«, sagte Mrs. Sykes. »Und die hinterste Wohnung steht leer und ist zu verkaufen.«
Winnys Mom sagte: »Lassen Sie uns durch meine Wohnung zum nördlichen Hausflur rübergehen und sehen, ob wir Bailey Hawks in 2-C finden. Es gibt niemanden im Pendleton, bei dem ich mich im Moment sicherer fühlen würde.«
* * *
Bailey Hawks
Auf der Kücheninsel lagen zwei Schachteln Munition, die Bailey aus seinem Schrank im Schlafzimmer geholt hatte. Während er das zwanzigschüssige Ersatzmagazin für seine 9mm Beretta lud, ließ er sich von Kirby Ignis die Geschichte seiner verblüffenden Begegnung mit dem distinguierten blutbespritzten Mann erzäh len, der gesagt hatte, er hätte alle getötet, und dann durch eine Wand verschwunden war.
Ignis war zu intelligent und pragmatisch, um Zeit darauf zu vergeuden, rationale, aber unwahrscheinliche Erklärungen vorzuschlagen wie manche Ufo-Skeptiker, die Zuflucht zu Hypothesen über Sumpfgas, Wetterballone und Schwärme schillernder Insekten nahmen. Er hatte einen Mann in einer Wand verschwinden sehen, aber statt seinen Verstand und die Zuverlässigkeit seiner Sinneswahrnehmungen infrage zu stellen, war er bereits dabei, seine persönliche Definition des Wortes unmöglich zu korrigieren.
»Ich kenne nicht die ganze Geschichte«, sagte Bailey. »Silas Kinsley oben aus der 3-C hat sich eingehend mit der Geschichte des Pendleton befasst. Er wird alle Einzelheiten parat haben. Aber irgendwann in den Dreißigern hat ein Butler die Familie getötet, der Belle Vista damals gehörte.«
»Der müsste aber inzwischen auch tot sein.«
»Sehr tot«, stimmte Bailey ihm zu, während er die Ersatzpatronen auf alle Taschen seines Sportsakkos verteilte. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat er schon damals Selbstmord begangen.«
»Mit Seancen habe ich nicht viel im Sinn.«
»Ich auch nicht.« Bailey dachte an Sophia Pendleton – Old King Cole was a merry old soul, and a merry old soul was he –, die gesungen hatte, als sie ihm auf der Treppe entgegengekommen war. »Aber das sind keine Geister. Es ist etwas noch Seltsameres, etwas Gewaltigeres.«
»Was haben Sie denn gesehen?«, fragte Ignis.
»Das erzähle ich Ihnen unterwegs.«
»Unterwegs wohin?«
»Zu Martha und Edna Cupp oben in der 3-A. Sie sind in ihren Achtzigern. Was auch immer hier geschieht – die beiden müssen hier raus.«
»Vielleicht gilt das für uns alle«, sagte Ignis.
»Das kann gut sein.«
* * *
Mickey Dime
Während Mickey die Sackkarre mit dem toten Jerry durch den nördlichen Hausflur im zweiten Stock rollte, dachte er wehmütig an die gemeinsam verbrachte Kindheit. Als er um die Ecke bog und vor dem Aufzug stehen blieb, um den Knopf zu drücken, hatte sich seine Fähigkeit zur Sentimentalität allerdings bereits erschöpft.
Jerry war Mickeys Bruder gewesen, aber auch ein Problem. Jetzt war das Problem gelöst. Seine Mutter hatte immer gesagt, die Starken agieren, die Schwachen reagieren. Und: Die Schwachen verspüren Reue, die Starken Triumph; die Schwachen glauben an Gott, die Starken an sich selbst. Sie hatte auch gesagt, sowohl die Starken als auch Schwachen gehörten zur Nahrungskette und es sei besser zu fressen, als gefressen zu werden. Sie sagte, die Starken hätten ihren Stolz, die Schwa chen ihre Demut, und sie sei stolz auf ihre Demut und nähme ihren Stolz demütig hin. Sie sagte, Macht rechtfertige alles und absolute Macht rechtfertige absolut alles. Da sie von einer berühmten kalifornischen Weinkellerei für eine Zeitungsannonce und einen Werbespot im Fernsehen im Rahmen der Werbekampagne »Was die klügsten Leute trinken« blendend bezahlt wurde, sagte sie außerdem, ein ordentlicher Cabernet Sauvignon sei entscheidend für ein gut gelebtes Leben, er sei eine Metapher für Transzendenz, er sei ein äußerst wichtiges Merkmal für die Umverteilung von Stil und er sei sowohl große Kunst als auch Literatur in einer
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