Nachthaus
Blitze flackerten und belebten seinen Schatten, der in der halbdunklen Küche nach vorn und wieder zurücksprang, nach vorn und wieder zurück, als sei die verzerrte Silhouette ein Wesen mit einem eigenen Willen und dem heftigen Verlangen, sich von ihm zu befreien.
Er nippte an dem Kaffee, der so heiß war, dass er es gerade noch aushielt, vielleicht nicht nur ein Heilmittel für seine flatternden Nerven, sondern auch gegen die Kälteschauer, die ihn plagten. Er war drauf und dran, das vereinbarte Treffen ausfallen zu lassen, hierzubleiben und Kaffee mit Schuss zu trinken, bis seine Augenlider schwer würden und er sich nicht mehr wach hal ten könnte. Er war jedoch sogar als Rentner noch Anwalt. Und zwar einer, der nicht nur die Gesetze von Bund, Land und Stadt respektierte, sondern auch und vor allem das Naturgesetz, den Kodex, von dem er glaubte, er sei allen Menschen von Geburt an eigen, ein Kodex von Verantwortlichkeiten, zu denen auch die Pflicht zählte, die Wahrheit zu lieben und ihr stets nachzugehen.
Doch manchmal war die Wahrheit eben schwer zu fassen …
Nachdem Tolliver, der Butler, 1935 die Familie Ostock und seine Kollegen ermordet hatte, stand Belle Vista drei Jahre lang leer, bis ein Junggeselle aus der Ölindustrie, ein Mann namens Harmon Drew Firestone, den die Gewalttaten der Vergangenheit nicht abschreckten, das prachtvolle Haus zu einem Spottpreis erwarb. Er gab ein Vermögen dafür aus, es zu restaurieren, bis es wieder in seinem alten Glanz erstrahlte. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Belle Vista zum Mittelpunkt des pulsierenden gesellschaftlichen Lebens der Stadt geworden. Der alte Harmon Firestone starb im Frühjahr 1972 still im Schlaf eines natürlichen Todes.
Der Nachlassverwalter des Firestone-Erbes verkaufte Belle Vista an einen Bauträger, der das Gebäude in dreiundzwanzig Wohneinheiten unterschiedlicher Größe umwandelte. Die hohen Decken, die aufwendigen und gut ausgeführten architektonischen Details, die Aussicht durch den erhöhten Standort und die eleganten, gemeinschaftlich genutzten Räume sorgten dafür, dass sich die Wohnungen 1974 schnell verkaufen ließen, zum höchsten Quadratmeterpreis in der Geschichte der Stadt. Siebenunddreißig Jahre später lebten nur zwei der ursprünglichen Besitzer noch in ihren Wohnungen, etliche Apartments waren schon mehr als einmal in andere Hände übergegangen.
Erst am Vortag hatte Silas in Erfahrung gebracht, dass die Geschichte des Blutvergießens im Pendleton nicht mit Nolan Tollivers Amoklauf geendet hatte. Es war nicht nur in jüngerer Zeit zu Gewalttaten einer bizarren Natur gekommen, son dern allem Anschein nach traten die Vorfälle auch mit vorhersagbarer Regelmäßigkeit mehr oder weniger auf den Tag genau alle acht unddreißig Jahre auf, was vermuten ließ, dass es demnächst zu einer weiteren Gräueltat kommen konnte.
Margaret Pendleton und ihre beiden Kinder Sophia und Alexander waren in der Nacht des 2. Dezember 1897 ver schwunden.
Achtunddreißig Jahre später waren am 3. Dezember 1935 die Familie Ostock und sieben Angehörige ihres Personals ermordet worden.
1973, achtunddreißig Jahre nach der Ostock-Tragödie, war das Belle Vista unbewohnt gewesen, weil es gerade zu Luxuswohnungen umgebaut wurde; kein Bewohner kam ums Leben. Dennoch hatten Ende November und Anfang Dezember jenes Jahres Handwerker und Facharbeiter, die mit dem Umbau be fasst waren, derart beunruhigende Erlebnisse gehabt, dass einige ihre Jobs kündigten und in all den Jahren seither Schweigen darüber bewahrt hatten, was sie als Zeugen miterlebt hatten. Einer von ihnen, Perry Kyser, war um siebzehn Uhr mit Silas verabredet.
Vor der Kaffeemaschine füllte er seinen Becher nach. Den Brandy hatte er noch nicht in den Schrank zurückgestellt. Nach kurzem Zögern beschloss er, den Kaffee diesmal nicht mit Alkohol zu mischen.
Als er die Flasche zuschraubte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, ein dunkles Etwas, das er nur flüchtig zu sehen bekam. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er sich zu der offenen Tür zum Flur umdrehte. Das Licht von zwei Kristallglaslampen an der Decke fiel auf cremeweiße Wände, einen persischen Läufer und den schimmernden Mahagoni boden, aber nicht auf einen Eindringling.
Seine jüngsten Entdeckungen hatten dafür gesorgt, dass seine Nerven angespannt waren. Falls es dem Pendleton bestimmt war, ein weiteres Mal wie im Dezember mehrerer anderer Jahre ein Totenhaus zu sein, dann konnte die Zeit knapp
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