Nachthaus
werden. Es war Donnerstag, der 1. Dezember 2011.
Silas war nicht in der Stimmung, die flüchtige Erscheinung im Flur als Sinnestäuschung abzutun. Er stellte seinen Kaffee becher hin, wagte sich aus der Küche hinaus und lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf auf die Geräusche eines Eindringlings.
Das Esszimmer lag links von ihm, das Arbeitszimmer und die Gästetoilette rechts. In keinem der Räume hielt sich je mand auf.
Hinter dem Esszimmer befand sich das geräumige Wohnzimmer mit seinem gusseisernen Kamineinsatz und der kunstvoll verzierten Kamineinfassung aus Kalkstein, die bis zu einer vier Meter zwanzig hohen verzierten Stuckdecke mit einem geriffelten Eierstabprofil reichte. Direkt gegenüber dem Kamin wanden sich Schlangen aus Regen die hohen Fensterscheiben hinab.
Am hinteren Ende des Wohnzimmers war im Flur sowohl der Riegel der Wohnungstür vorgeschoben als auch die Sicherheitskette vorgelegt.
Auf der anderen Seite des Flurs, dem Wohnzimmer gegenüber, lauerte niemand im Schlafzimmer oder in einer der beiden Ankleiden. Die Stille erschien ihm tiefer als sonst, wie ein erwartungsvolles Schweigen, doch den unheimlichen Charakter dieser Geräuschlosigkeit mochte er sich einbilden.
Als er sich der halb offenen Tür zu dem geräumigen Bade zimmer näherte, einem Reich aus weißem Marmor mit goldenen Adern und großen verspiegelten Flächen, glaubte er, säuselnde Stimmen oder vielleicht das zischelnde Geräusch zu hören, das während der Nacht aus dem Innern der Mauer zu vernehmen gewesen war. Aber als er über die Schwelle trat, erwies sich auch das Bad als still – und menschenleer.
Er sah sich den Raum erst in einem Spiegel und dann in einem anderen an, als könnte ein Spiegelbild etwas enthüllen, was nicht zu sehen war, wenn man den Blick direkt darauf rich tete. Da die Spiegel einander gegenüberhingen, stand er zwi schen einer Vielzahl von Silas Kinsleys, die entweder im Gänsemarsch auf ihn zukamen oder ihm den Rücken zukehrten und sich von ihm zurückzogen.
Es war lange her, dass er sein Gesicht das letzte Mal ganz bewusst in einem Spiegel betrachtet hatte. Er wirkte viel älter, als er sich fühlte. In den drei Jahren seit Noras Tod war er um zehn Jahre gealtert.
Er sah von einem Gesicht zum anderen und rechnete fast damit zu entdecken, dass eines von ihnen das eines Fremden war, eines böswilligen Anderen, der sich zwischen einer Unzahl von immer kleiner werdenden Silas Kinsleys verbarg. Was für ein seltsamer Gedanke. Natürlich waren die Spiegelbilder lauter identische alte Männer.
Als er in den Flur zurückkehrte, stieg unter seinen Füßen ein leises und bedrohliches Rumpeln auf, kein Donner, sondern eher so, als führe unterirdisch ein Zug unter dem Gebäude durch, obwohl es in der Stadt kein U -Bahn-Netz gab. Das Pendleton erschauerte und Silas wankte mit ihm. Er dachte: Erdbeben , aber in den fünfundfünfzig Jahren, die er in dieser Stadt verbracht hatte, hatte er nie ein Erdbeben gefühlt und auch nur das Geringste von einer größeren Verwerfung unter irgendeinem Teil des Bundesstaats gehört. Das Beben dauerte zehn oder fünfzehn Sekunden und legte sich dann, ohne Schäden zu hinterlassen.
* * *
Im Arbeitszimmer drehte sich Zeuge im Kreis, weil er sich zuerst einen Eindruck von der Räumlichkeit verschaffen wollte. Es konnte durchaus sein, dass er nur für ein paar Sekunden hier sein würde, bestenfalls ein oder zwei Minuten. Es war das Zimmer eines Mannes, aber es strahlte Wärme aus und eine Wand war einer Fotogalerie vorbehalten, die Silas Kinsley mit einigen der Mandanten zeigte, die er so erfolgreich vertreten hatte, Silas und seine verstorbene Frau Nora an diversen exotischen Schauplätzen sowie die beiden zusammen mit verschiedenen Freunden bei festlichen Anlässen.
Im Flur ging Kinsley an der offenen Tür vorbei in Richtung Küche. Er warf keinen Blick hinein. Zeuge wartete darauf, dass der Anwalt wieder auftauchte, weil ihn das, was er aus dem Augenwinkel gesehen hatte, erst mit Verspätung in Alarmbereitschaft versetzte, doch häusliche Geräusche in der Küche wiesen darauf hin, dass keine unmittelbare Konfrontation zu erwarten war.
Wie würde er reagieren, wenn er einen Fremden – einen kräftigen jungen Mann in Stiefeln, Jeans und Pullover – wie durch Zauberhand in seiner Wohnung vorfand? Mit der Furcht eines Mannes, der vom Alter geschwächt war, oder mit der ruhigen Autorität eines Anwalts, der nach Jahrzehnten der Triumphe im Gerichtssaal immer noch
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