Nachtjaeger
das Gefühl gab, jeden Augenblick entzweigerissen zu werden, zeigte sich die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht. Seine Stimme klang jedoch alles andere als amüsiert. Sie klang vorsichtig, gerissen und beinahe … beinahe bewundernd.
»Du kannst Gedanken lesen.« Seine zusammengeballten Finger lösten sich, und er strich den Walnussstaub ab, ohne die Augen von ihr zu lassen. »Wie unangenehm.«
»Bisher nur deine. Das ist eine neue Entwicklung in meinem Leben. Erwarte also nicht zu viel.«
Gedankenverloren malte er mit seinem Zeigefinger ein unsichtbares Muster auf den Tisch. Er blickte eine Weile auf seine Finger, ehe er wieder aufschaute. Wie zuvor spürte sie auf einmal all die Emotionen, die sie auch beim ersten Mal, als sie ihn sah, durchlebt hatte: die elektrisierende Spannung, den Zauber und die Bedrohung, die er wie ein Parfüm auf der Haut trug. »Für jemanden, der gerade etwas so Ungewöhnliches herausgefunden hat, wirkst du überraschend ruhig.«
Ihr Magen verkrampfte sich. »Mein ganzes Leben ist ungewöhnlich gewesen. Ich bin von einem Ort zum nächsten umgezogen, stets auf der Flucht vor einer unsichtbaren Bedrohung. Ich hatte einen Vater, der spurlos verschwand, und eine Mutter, die sich jede Nacht in den Schlaf getrunken hat. Ich wusste, dass ich anders bin, wusste aber nie, warum. Niemand hat mir jemals die Wahrheit gesagt.«
Sie hielt abrupt inne und blickte auf den Tisch. Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, die sie jetzt wegzublinzeln versuchte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme wie ein heiseres Flüstern. »Und du kannst mir glauben: Ich bin alles andere als ruhig. Tatsächlich überlegt sich gerade mein Frühstück, ob es nicht wieder auftauchen sollte.«
Leander beugte sich vor. »Jenna …«
Er brach ab, als jemand neben ihren Tisch trat. Es war ein attraktiver junger Mann, geschmeidig und mit schwarzen Haaren wie Leander, mit einem spitzen Haaransatz und scharfen, durchdringenden Augen, die sowohl skrupellos als auch sinnlich wirkten. Er setzte sich auf einen der Stühle, seufzte und streckte sich.
»Konnte nicht widerstehen. Ich musste ein bisschen raus. Schönes Wetter heute, nicht wahr?« Er grinste und sah sie dabei mit einer solchen Gier an, dass seine Lässigkeit noch aufgesetzter wirkte. Wie zufällig legte der den Arm über die Rückenlehne des Stuhls.
Jenna kannte ihn. Er war der andere Mann auf dem Parkplatz gewesen. An jenem ersten Tag.
Jetzt kam die Dritte im Bunde – eine atemberaubend schöne, schwarzhaarige Frau, die ein derart provozierendes Kleid trug, dass ein Mann direkt gegen eine Wand lief, als er ihr fassungslos hinterhersah. Voller Anmut ließ sie sich ebenfalls an ihrem Tisch nieder, wobei sie den kalten Zorn in Leanders Blick souverän ignorierte.
Jenna ihrerseits achtete nicht auf die beiden, sondern beugte sich vor, um weiter mit Leander zu sprechen. Sie war nun entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
»Du musst mir einfach nur die Wahrheit sagen, und ich werde mein Wort halten«, erklärte sie Leander. »Ich werde mit dir kommen. In deinen Gedanken habe ich nichts entdecken können, das mir den Eindruck vermittelte, dass du mir schaden willst.« Ihre Wangen röteten sich. »Ganz im Gegenteil. Ich glaube vielmehr, dass du der Einzige bist, der alle meine Fragen beantworten kann. Und ich habe viele Fragen. Doch falls ich den Eindruck habe, dass du lügst oder mir etwas vorenthalten willst, wird es nichts geben, was mich dazu bringen kann, aus diesem Stuhl aufzustehen. Du wirst nichts sagen oder tun können, um mein Vertrauen zurückzugewinnen, wenn du es einmal verloren hast. Ich habe bewusst diesen öffentlichen Ort für unser Gespräch gewählt. Ich werde auf diesem Stuhl sitzen und so lange schreien, bis die Polizei kommt. Und dann werde ich so weit weglaufen, dass du mich nie mehr findest.«
Die Geräusche der Leute um sie herum sowie der hallenden Schritte und das Klirren der Gläser auf den Tischen schienen in der plötzlichen Stille, die ihren Worten folgte, doppelt so laut zu sein. Die Frau und der jüngere Mann saßen vor Erstaunen regungslos auf ihren Stühlen. Dann warfen sie zuerst einander und dann Leander einen fragenden Blick zu.
Dieser jedoch sah Jenna gelassen an. Wie immer wirkte er mühelos attraktiv und kontrolliert. Seine Selbstbeherrschung hatte er inzwischen zurückgewonnen. »Ich muss zugeben, dass es mir beinahe die Sprache verschlägt. Ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas schon einmal
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