Nachtjaeger
über den Rücken, sodass sie glaubte, kaum mehr atmen zu können. Und doch war sie mit jedem Molekül ihres Körpers, mit jedem Atom ganz auf ihn konzentriert.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich jetzt sagen soll«, erklärte Leander vorsichtig. Er sah sie mit durchdringenden Augen an, wobei seine Stimme noch immer so neutral wie möglich klang. »Vielleicht möchtest du erklären, was du genau meinst.«
Jenna blieb konzentriert, während sie antwortete. »Wenn du deine Spielchen mit mir treibst«, sagte sie ruhig und starrte ihn direkt an, »werde ich auf keinen Fall mit dir nach Sommerley fahren.«
Seine Miene war noch immer ausdruckslos. Seine Augen musterten sie wie erstarrt. Leander zerdrückte die Walnuss zwischen seinen Fingern.
»Wie bitte?«, flüsterte er.
Sie musste triumphierend lächeln. Also doch nicht so cool, wie er tat.
»Habst du wirklich geglaubt, dass ich völlig unvorbereitet bin? Weißt du denn nicht, dass ich mir schon lange überlegt habe, wie dieser Moment aussehen würde? Dass ich dich vielleicht sogar seit Jahren erwartet habe – oder zumindest jemanden wie dich? Hältst du mich für eine Vollidiotin?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn abwartend an. Doch er war so verblüfft, dass er nicht antworten konnte.
»Meine Mutter hat mich immer gewarnt. Sie sagte, dass es eines Tages so weit kommen würde, aber ich weiß nicht, ob ich ihr wirklich geglaubt habe«, erklärte Jenna, während ihr Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte. »Sie hat mich angewiesen, wegzurennen. Sie hat mir gezeigt, wie ich ein Leben im Verborgenen führe. Aber ehrlich gesagt, bin ich es schon lange leid, wegzurennen.« Sie hielt inne. Als sie weitersprach, war ihre Stimme etwas tiefer geworden. »Und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich vor dir oder irgendjemandem sonst verbergen soll.«
Jenna hatte das Verstecken satt. Die ewige Geheimniskrämerei reichte ihr. Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte ihr Vater die Familie alle paar Monate woanders hingebracht. Niemals waren sie irgendwo lange genug geblieben, um sich heimisch zu fühlen. Ihre Kindheit bestand aus einer langen Reihe von fremden Gesichtern. Einer Reihe flüchtiger Eindrücke von Nachbarn, Lehrern und Klassenkameraden, die in ihrem Leben auftauchten und dann wieder verschwanden, als ob Jenna ihre ganze Kindheit über auf einem Karussell gesessen hatte. Es drehte sich einmal, und schon war alles wieder weg und wurde nie mehr gesehen.
Dann verwandelte sich auch ihr Vater in einen Geist und verschwand wie alle Übrigen aus ihrem Leben.
»Du bist anders als die anderen Mädchen, Jenna«, hatte ihre Mutter immer wieder zu ihr gesagt. Das war mehr als offensichtlich gewesen. »Aber du musst so tun, als wärst du es nicht. Ganz gleich, was passiert – du musst dich anpassen. So, wie es dein Vater getan hat. Das ist die einzige Möglichkeit, um nicht in Gefahr zu geraten. Es ist die einzige Möglichkeit, nicht gefangen zu werden. Und falls sie dich doch finden … Dann lauf.«
Sie war sich absolut sicher, dass das, wovor sie weglaufen sollte, ihr jetzt am Tisch gegenüber saß – exotisch, regungslos und gefährlich wie eine Kobra, ehe sie zubeißt.
»Ich möchte dir einen Deal vorschlagen.« Sie streckte die Hand aus, um den Staub der zerdrückten Nuss zusammenzustreichen, der aus seinen Fingern gerieselt war. »Du erzählst mir die Wahrheit, und ich werde ohne Aufsehen mit dir kommen. Ich komme freiwillig, wenn du mir die Wahrheit sagst. Also – was meinst du?«
Er bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht und antwortete auch nicht. Er starrte sie nur aus schmalen Augen an und überlegte.
»Ich weiß, dass du das nicht erwartet hast. Aber ich hoffe, dass du es in Erwägung ziehst. Es ist jedenfalls viel besser als dein eigener Plan.«
Jenna bemühte sich um ein Pokerface, um ihm nicht zu verraten, dass sie größtenteils keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Sie hatte zwar einiges in seinen Gedanken gesehen und gelesen, doch es waren so viele Bilder und Eindrücke gewesen, dass ein ziemliches Chaos in ihrem Kopf entstanden war. Doch er wusste ja nicht, was sie gesehen hatte.
Sie wollte Antworten. Danach … Danach konnte er nach Sommerley zurückkehren, wo auch immer das sein mochte.
Oder er konnte gleich zur Hölle fahren.
Leander lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Er atmete hörbar durch die Nase aus. Nach einer Minute des Schweigens und einer steigenden Anspannung, die ihr
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