Nachtjaeger
passiert ist. So etwas gab es bisher noch nie.«
»Wie tragisch«, erwiderte sie und amüsierte damit sichtbar den Jüngeren der beiden.
Leanders Miene wirkte jetzt säuerlich. »Nur um sicherzugehen, dass wir auch alle wissen, wovon wir reden«, sagte er mit übertriebener Geduld, die seine gelassene Haltung Lügen strafte. »Du wirst dein bisheriges Zuhause verlassen – deine Freunde, deine Arbeit, dein Leben –, um zu unbekannten Leuten und unbekannten Orten aufzubrechen. Und das alles, weil du ein paar Fragen beantwortet haben möchtest?«
»Ja«, log sie. In Wahrheit hatte sie keineswegs vor, mit ihm irgendwohin zu gehen.
Er schüttelte langsam und bedächtig den Kopf. »Du machst das Ganze natürlich viel einfacher für mich. Aber ehrlich gesagt kann ich dir nicht folgen.«
Jenna lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie war erleichtert und zugleich zutiefst verängstigt, dass er ihrem Angriff nicht Paroli bot. Er beteuerte weder seine Unschuld, noch bezeichnete er sie als verrückt.
Ob das nun gut war oder nicht – bisher ließ er sich jedenfalls auf ihre Forderungen ein.
Mit einer raschen Handbewegung strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte dann mit den Schultern. »Du bist ein Mann. Ich bin eine Frau. Es gibt sicher viele Dinge, die du nicht verstehst.«
Die schöne, dunkelhaarige Frau begann leise zu lachen – ein weiches, mädchenhaftes Kichern, das sie hinter der perfekt manikürten Hand zu verbergen versuchte, die sie sich vor den Mund hielt. Doch es wurde zu einem immer lauteren Lachen, bis sie schließlich den Kopf zurückwarf und sich ihm ganz hingab, während sich Leander und Jenna schweigend anstarrten.
»Ich glaube, sie gefällt mir, Leander. Ich glaube, sie gefällt mir sogar ausgezeichnet«, sagte die Frau, als sie wieder sprechen konnte. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und betrachtete Jenna mit neuer Bewunderung in ihren warmen, grünen Augen.
»Verzeih«, sagte Leander zu Jenna. »Ich habe dir bisher noch gar nicht meine Begleiter vorgestellt.« Er warf einen kühlen Blick in Richtung der Frau. »Das hier ist Morgan.«
Morgan lächelte Jenna an und entblößte dabei eine perfekte Reihe weißer Zähne zwischen ihren scharlachroten Lippen. Sie streckte die Hand aus, die Miene offen und direkt. Ehe Jenna auch nur daran denken konnte, die Geste zu erwidern, schoss Leanders Hand vor und hielt Morgans Finger fest. Morgan erstarrte und sah ihn fragend an, sagte aber nichts.
Er hatte also erraten, wie es ihr möglich gewesen war, seine Gedanken zu lesen. Nicht dumm. Also gut. Aber zumindest wusste er nicht, wie viel sie gesehen hatte.
»Und das ist Christian«, fuhr Leander fort. Er wies mit dem Kopf auf den jungen Mann, der neben ihm saß. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass sie miteinander verwandt sein mussten, aber Leander fügte keine Erklärung hinzu.
»Ich muss schon sagen«, erklärte Christian lässig, während er Jenna von unten herauf ansah. Ein verwegenes Lächeln spielte um seine Lippen. »Es ist mir ein großes Vergnügen, dich endlich persönlich kennenzulernen.« Jetzt grinste er breit. »Die geheimnisvolle kleine Streunerin, die so lange verschwunden war, soll endlich nach Hause kommen. Wir sollten eine Party geben.«
»Christian«, warnte Leander. Er hatte die Lippen aufeinandergepresst und warf ihm einen scharfen Blick zu.
Morgan schlug begeistert die Hände zusammen und richtete sich auf. »Oh, ja! Eine Party! Wenn wir alle in Sommerley sind, werde ich Jenna zu Ehren einen Ball geben, und wir werden tanzen und Musik hören und …«
»Hört sofort auf, ihr beiden«, zischte Leander durch zusammengebissene Zähne. Sein Gesicht war vor kaltem Zorn wie erstarrt. Die beiden verfielen in Schweigen.
Jenna rutschte leicht auf ihrem Stuhl nach vorn. Sie war sich bewusst, dass Christian versucht hatte, Leanders Macht zu untergraben und Morgan ihm unwissentlich dabei geholfen hatte. Leanders Wut auf die beiden hing wie eine Gewitterwolke hinter ihren Köpfen.
»Seid ihr mit meinem Vater verwandt?«, frage sie ihn abrupt, um ihren Vorteil nicht wieder zu verlieren.
»Ja«, erwiderte Leander, ohne nachzudenken. Er war noch immer wütend. Dann massierte er sich den Nasenrücken, während er die Augen schloss. »Das heißt nein. Nicht so, wie du vielleicht denkst. Es ist nicht so einfach, es ist vielmehr sehr …«
»Weißt du, was mit ihm passiert ist?«
Er öffnete die Augen und blickte sie an. Ein Schatten legte sich auf seine Miene.
Weitere Kostenlose Bücher