Nachtjaeger
»Auch das ist nicht so einfach …«
»Weißt du, wo er ist? Lebt er noch?«, fragte sie mit lauter werdender Stimme.
»Jenna, um Gottes willen. Das hier ist wirklich nicht der richtige Ort …«
Jenna sprang von ihrem Stuhl auf. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Empörung wider, die auf einmal in ihr hochkochte. Der Stuhl fiel um und landete mit einem lauten Krachen auf dem Marmorboden. Die anderen Gäste drehten neugierig die Köpfe in ihre Richtung. Jenna achtete nicht darauf, sondern lenkte ihren Blick wie einen Laserstrahl auf Leanders ernstes Gesicht.
»Warum bist du mir gefolgt? Was willst du von mir? Wo ist mein Vater?«, wollte sie wissen. Er wusste es. Er wusste alles. Er wusste es und blieb doch stumm wie eine Statue und starrte sie mit dieser enervierenden, kalten Verachtung an, als ob es ihm nur darum ginge, dass sie keine Szene machte – als ob alles andere nichts zählen würde.
Die Wahrheit, du Schwein, dachte sie. In ihr stieg die Galle hoch. Das ist das Einzige, was zählt.
Ihre Hände begannen zu zittern – ebenso wie ihre Unterlippe, ihre Knie und jeder Nerv in ihrem Körper. Etwas in ihr hatte genug.
»Wer zum Teufel seid ihr?«, rief sie so laut sie konnte.
In der Lounge wurde es auf einmal totenstill. Jetzt konnte sie nur noch Leanders Herz schlagen hören. Das jedoch vernahm sie so laut und deutlich wie eine Glocke. Es pochte heftig und voller Leben in seiner Brust.
Ruhig und ohne Eile erhob er sich von seinem Stuhl. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, als er ihr gegenüberstand. Er bedachte sie mit einem Blick, der so kalt war, dass er glühende Lava hätte erstarren lassen.
»Ich bin bereit, deine Fragen zu beantworten, Jenna. So, wie du das willst«, sagte er ruhig, doch sie konnte deutlich den Zorn in seiner Stimme hören. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört sind. Unsere Diskussion könnte offenbar recht … recht hitzig werden. Ich schlage meine Suite vor.«
Jennas Nackenhaare stellten sich auf. Sie zitterte noch immer. »Du erwartest von mir, dass ich mit dir alleine in deine Suite gehe, wo du weiß Gott was mit mir anfangen könntest? Wenn du mich für derart töricht hältst, dann liegst du völlig falsch.«
Sein Blick taute etwas auf, und er gestattete sich sogar ein freudloses Lächeln. Er hob die Hand, um ihr seine guten Absichten kundzutun. »Wenn du mir nicht glaubst …« Er zuckte lässig mit den Schultern. »Dann überzeug dich doch selbst.«
Jenna sah auf seine ausgestreckte Hand und dann in sein attraktives, ernstes Gesicht. Sie hatte nicht vor, ihn noch einmal zu berühren. Sie konnte es nicht. Sie war nicht für das Bombardement aus Gedanken und Bildern bereit, nicht auf die beängstigenden Gefühle, die mit der Berührung seiner Haut einhergingen. Sie würde nie dafür bereit sein. Vielleicht würde sie nie mehr in der Lage sein, jemanden zu berühren, und momentan wusste sie nicht einmal, ob sie diese Vorstellung störte oder nicht.
Also: Sie musste ihm einfach vertrauen.
»Gut. Dann in deine Suite«, sagte Jenna und ballte die Hände erneut zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken. »Aber wir lassen die Tür offen.«
Leander legte den Kopf zur Seite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Mit leiser Stimme sagte er: »Folge mir.«
Das »wenn du es wagst« wurde zwar nicht gesagt, doch sie hörte es genauso deutlich, als wenn Leander es laut ausgesprochen hätte.
Sie ging nicht als Erste, sondern folgte den dreien, als diese schweigend durch die Lobby mit ihren riesigen Blumenarrangements und glänzenden Spiegeln marschierten, vorbei an den stillen, gläsernen Lichthof mit seinen tropischen Pflanzen und einem dunklen Bassin mit unruhigen, orangefarbenen Kois. Dann liefen sie durch die Glastüren, welche sich mit einem eleganten Schwung nach außen öffneten und sie in die heiße, nach Rosen duftende Luft entließen. Nun befanden sie sich im Garten des Hotels und vor einer privaten Wendeltreppe, über die man zur Präsidenten-Suite im obersten Stock gelangte.
Jenna hatte sich geweigert, mit dem Trio in den Lift zu steigen.
Sie vermochte kaum die Augen von ihnen abzuwenden, während sie vor ihr her liefen. In jedem von ihnen sah sie das Tier. Die Art, wie sie auf dem Marmor, dem Beton und dem Gras lautlos einen Fuß vor den anderen setzten, wie sich ihre Glieder geschmeidig und anmutig, kraftvoll und wendig bewegten, wie sie bei jeder Ecke, bei jeder Kurve ihre wahre Natur einen
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