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Nachtjaeger

Nachtjaeger

Titel: Nachtjaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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Stoppeln auf seinem Kinn und seine strahlend weißen Zähne sehen, wenn er lächelte. All das ließ ihn weniger geheimnisvoll wirken und gab ihr mehr das Gefühl, dass er ihr gehörte.
    Die mysteriöse Narbe auf seiner Wange wurde allmählich schwächer. Der hässlich rote Schnitt verwandelte sich nach und nach in weiße Haut und verunstaltete die Vollkommenheit seines goldenen Teints. Mit dieser Narbe war er am Tag vor ihrem Umzug auf die Insel nach Hause gekommen.
    »Nein«, antwortete sie. Natürlich kannte sie die Antwort, wollte sie aber noch einmal hören.
    »Weil du eine Prinzessin bist«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er streichelte ihr über den Rücken und drückte sie noch enger an sich. »Mit goldenen Haaren und wunderschön. Stark und mutig und jedes Opfer wert. Meine Prinzessin, die eines Tages eine Königin sein wird.«
    Etwas störte sie diesmal an der Antwort, etwas, was ihr bisher nicht aufgefallen war.
    »Was ist ein Opfer, Daddy?«, fragte sie und runzelte die Stirn, als sie zu ihm aufblickte. Er lächelte jedoch nur und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er begann, so lange hin- und herzuschaukeln, bis sie eingeschlafen war – warm und geborgen und glücklich an seiner Brust.
    Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag sie in ihrem Bett unter einer abgenutzten Patchwork-Decke. Der Teddy war in ihren Armen, doch ihr Vater war verschwunden.
    Seit jenem Abend musste Jenna stets an ihren Vater denken, wenn es regnete, und die Traurigkeit herunterschlucken, die immer wieder in ihr aufloderte.
    Augenblicklich regnete es nicht. Ruhig saß sie in der Lobby des Four Season neben einem riesigen Topf mit auberginefarbenen Callas und duftendem Jasmin. Die Pflanzen hingen beinahe bedrohlich über ihren Tisch. Es war glühend heiß, und die Luft war so trocken, dass ihr die Augen brannten. Trotzdem musste sie an ihren Vater denken.
    Sie dachte an ihn, weil sie sein Gesicht in Leanders Gedanken gesehen hatte.
    Das erste Mal, als Leander sie am Abend zuvor berührt hatte – der leichte Druck auf ihrem Arm, während er ihr mit seiner ruhigen, schönen Stimme erklärte, dass er den Latour in Erinnerung an seine Eltern bestellte –, hatte sie ein leichtes Beben auf ihrer Haut gespürt. Dasselbe Beben, das sie so heftig im Supermarkt erlebt hatte. Auch, als sich ihre Augen im Restaurant trafen, war dieser Stromschlag durch sie hindurchgegangen.
    Trotzdem war sie nicht bereit, es zuzugeben. Sie machte sich vor, dass es ihre Nerven waren, die ein seltsames Spiel mit ihr trieben.
    Das nächste Mal entstand diese Spannung und ihre Umwelt verschwamm vor ihren Augen, als er seine Hand über die ihre legte, die den Stiel des Weinglases umfasst hielt. Ihr Herz begann zu rasen, während sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass sich ihre Umgebung wieder zu etwas Greifbarem verwandelte. Jenna vergaß all das, als das Rumoren der Erde Meilen unter ihren Füßen Minuten vor dem Beben an ihre Ohren drang. Jetzt konnte sie sich nur noch darauf konzentrieren, aufrecht stehen zu bleiben, während die ersten Druckwellen zu ihnen durchdrangen und gleichzeitig der saure Gestank erhitzter, brodelnder Erdmassen in ihre Nase drang.
    Doch als Leander sie in seine Arme genommen und mit ihr durch das Restaurant auf die Terrasse hinausgerannt war, erinnerte sie sich. Als ihre Hand auf seiner Brust ruhte, hatte sie das Schlagen seines Herzens und die heiße Haut unter seinem Hemd gespürt. Wieder verschwammen die Farben. Doch diesmal sah sie auf einmal Dinge vor sich, wie das noch nie zuvor der Fall gewesen war.
    Erinnerungen, die nicht die ihren waren.
    Sondern seine.
    So viele Dinge gleichzeitig. So viele Leute und Orte und Gefühle, eine seltsame Macht und ein pulsierendes Verlangen. Doch stets sah sie das vor sich:
    Ein elegantes Herrenhaus inmitten einer grünen, hügeligen Landschaft. Riesig und geheimnisvoll mit Alabastersäulen und großen Gemälden von ernst wirkenden Menschen in goldenen Rahmen. Überall standen teure Antiquitäten. Draußen gab es einen dunklen Wald mit dichtem Unterholz und uralten Bäumen, die so hoch waren, dass sich ihre Wipfel oben im Nebel verloren. Moos hing von den Ästen herab und schwang in einer nächtlichen Brise unwirklich hin und her. Sie sah Reißzähne und Klauen und muskulöse, geschmeidige Körper, Kreaturen auf vier Beinen, die still über den Waldboden schlichen. Kreaturen, die knurrten und brüllten und sich in Rauch auflösten, sobald sie ein unbekanntes Geräusch hörten.
    Ein

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