Nachtjaeger
stellte sich vor, wie der Alpha durch die leeren Räume in Sommerley gewandert wäre, verloren wie ein Kind, schluchzend und allein.
Im Leben waren sie unzertrennlich gewesen. So schien es zu passen, dass sie auch im Tod unzertrennlich blieben.
Er fasste sich an seinen schmerzhaft pochenden Kopf und drängte den Chauffeur, noch schneller zu fahren. Leander wollte endlich wieder in seinem eigenen Bett liegen. Er musste schlafen, dringend schlafen. Die ständige Sehnsucht, die Jenna in ihm weckte, war zu einer Qual geworden, die ihn messerscharf zu durchtrennen schien, wenn sie in seiner Nähe war. War sie es nicht, wurde die Qual zu einem dumpfen Gefühl der Unzufriedenheit.
Sie war geschmeidig, kühn und stark, unbeschreiblich schön, abenteuerlustig und draufgängerisch – und doch von einer Verletzlichkeit, die ihn zutiefst bewegte. Sie war störrisch und klug, sie war Feuer und Eis, sie war voll weiblicher Geheimnisse. Sie schmeckte nach wilden Rosen und Regen, aber sie gehörte nicht ihm.
Und sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das auch niemals tun würde.
Wieder sackte sein Kopf gegen die Polster. Er presste die Knöchel kurz in die Augenhöhlen und atmete tief durch.
Als sie schließlich vor den riesigen Eisentoren am unteren Ende der langen Einfahrt nach Sommerley anhielten, musste Leander seine Hoffnung aufgeben, schon bald ins Bett zu kommen.
Ein rechteckiges Stück Stoff flatterte oberhalb der linken Steinsäule im Wind. Es war eine rote Flagge – das Zeichen des Rats, dass Gefahr im Verzug war.
11
Jenna entdeckte den Knopf an der Armlehne, mit dem man das schwarz getönte Fenster öffnen konnte. Der Geruch des nassen Grases und der vom Regen gereinigten, nächtlichen Luft drang in das warme, kaum beleuchtete Innere der Limousine. Sie starrte nach draußen. Voll Staunen sah sie die drei Meter hohen Steinmauern, die Sicherheitskameras und den Stacheldraht, der sich hinter den Toren zwischen sorgfältig beschnittenen Feigenbäumen verbarg.
»Es sieht wie eine Festung aus«, sagte sie verblüfft. Als sich das Haupttor öffnete, verschwanden die Steinmauern aus ihrem Blickfeld, und jetzt sah sie nur noch riesige Rasenflächen vor sich, die von Flutlichtern erhellt wurden. »Mit welchen Angriffen rechnet ihr hier? Wer sind eure Feinde?«
»Die Welt, ihre Geheimnisse und ihr Elend«, erwiderte Christian sanft. Seine Stimme klang lasziv zärtlich.
Er hatte es sich bequem gemacht, die langen Beine lässig vor sich ausgestreckt, Rücken an Rücken mit dem Fahrer. Jenna und Morgan befanden sich ihm gegenüber, auf der Rückbank im hinteren Teil des Wagens. Die getönte Fensterscheibe zwischen Gästen und Fahrer war geschlossen, und das Licht, das immer wieder durch die Scheiben eindrang, umgab Christians Kopf mit einem dunklen Strahlenkranz.
Sein Gesicht war in Schatten getaucht. Doch seine perfekten weißen Zähne schimmerten, wenn er lächelte. Trotz der Dunkelheit spürte sie seinen aufmerksamen Blick, was sie in leichte Panik versetzte. War sie wahnsinnig gewesen, freiwillig hierherzukommen? Hatten die Ikati vor, sie bei lebendigem Leib zu verspeisen? In diesem Moment wurde sie von Morgan aus ihren Gedanken gerissen, die neben ihr vor sich hin murmelte.
»Es geht eher darum, was wir versuchen, nicht rauszulassen.« Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig zur Seite und verschränkte ihre schlanken Arme über der Brust.
Jenna runzelte die Stirn. Je näher sie Sommerley kamen, desto trübsinniger wirkte Morgan. Sie warf ihr einen heimlichen Blick zu und stellte fest, dass die schöne Frau starr und blass aus dem Fenster blickte, die Lippen geschürzt.
»Was soll das heißen?«, fragte sie.
»Das wirst du schon noch merken«, erwiderte Morgan düster, ohne sie anzusehen.
Ein statisches Knistern ließ sie zusammenzucken. Der Fahrer sagte etwas in eine Sprechanlage, die an einer schmalen Säule neben der Einfahrt zu Sommerley angebracht war. Das Knistern verwandelte sich in eine blechern klingende Stimme, und dann öffneten sich mit einem Klicken die schweren Eisentore.
Langsam gingen sie auf, um die Limousine einzulassen. Fast lautlos rollten sie am Pförtnerhaus vorbei, dessen dunkle Fenster Jenna wie leere Augen ansahen.
Das Herrenhaus von Sommerley war so, wie Jenna das in Leanders Gedanken gesehen hatte. Als sie jedoch auf dem weißen Kies der Einfahrt vor dem Gebäude stand, erschien es ihr wesentlich riesiger und einschüchternder als in seinen Erinnerungen. Sie bemerkte kaum
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