Nachtjaeger
Dutzend Kolonien auf der ganzen Welt. In Nepal, Kanada, Brasilien und Sommerley.«
»Und Leander ist der Alpha von allen?«
Morgan lächelte amüsiert. »Ich bin mir sicher, dass er das gerne wäre. Aber nein – jede Kolonie hat ihren eigenen Alpha und ihren eigenen Rat, der aus den mächtigsten Stammesmitgliedern besteht.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Es sind natürlich alles Männer, soweit ich weiß. Ich bin meines Wissens nach jedenfalls die einzige Frau, die jemals in einen Rat gewählt wurde.«
»Und niemand weiß von all dem?«, wunderte sich Jenna. »Ihr lebt im Grunde ganz offen, und doch hat kein Mensch bemerkt, dass ihr anders seid?«
Morgans Lächeln verschwand. »Nicht ganz offen. Wir leben nie offen. Das können wir nicht.«
»Warum nicht? Wäre das nicht einfacher? Einfach damit rauszurücken, wie es so schön heißt?«
Morgan neigte den Kopf zur Seite und sah Jenna an. Ihre Augen funkelten im gedämpften Licht der Kabine. »Es muss schön sein zu glauben, dass die menschliche Natur noch andere Seiten hat, als grausam zu sein, wenn es um etwas geht, was so anders wie sie selbst ist.«
Jenna fühlte sich leicht angegriffen. »Man kann nie wissen. Vielleicht wärst du überrascht, wie groß… wie nett die Menschen sein können. Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, aber alles in allem …«
»Ich befürchte, dass du trotz deiner Klugheit in dieser Hinsicht ziemlich naiv bist«, unterbrach Morgan ruhig. »Es gibt nichts, was der Mensch mehr verachtet als Vielfalt – ganz gleich, was man dir beigebracht hat. Entweder gehört man dazu oder man ist anders«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Und anders sein bedeutet, der Feind zu sein.«
Jenna dachte an all die netten Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte, wenn auch zugegebenermaßen meist nicht für lange. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
Morgan warf ihr einen sanft tadelnden und traurigen Blick zu. »Du solltest mir glauben. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Es gab eine Erschütterung, als die Räder des Flugzeugs den Boden berührten. Morgans Hand presste sich panisch auf ihren Hals.
Jenna sah sie fragend an. »Was ist los?«
Morgan schüttelte den Kopf und schluckte. Dann winkte sie ab. »Ich hasse Fliegen. Ich fühle mich so hilflos, so ausgeliefert. Man kann nichts sehen.«
»Wirklich? Ich liebe Fliegen«, entgegnete Jenna. »Als ich ein Kind war, sind wir so oft umgezogen, dass ich schon glaubte, wir würden unser eigenes Flugzeug haben. Ich wollte immer am Fenster sitzen, um auf die Wolken hinauszusehen und so tun zu können, als wäre ich allein. Als würde ich draußen im Wind mitfliegen. Mein Vater meinte immer, ich hätte die Seele eines Vogels.«
Sie hielt inne, denn die Erinnerung an ihren Vater hinterließ einen bitteren Geschmack. Den Geschmack von Tränen. »Ich wollte immer ein Falke sein«, fuhr sie fort. »Dann hätte ich einfach wegfliegen und die ganze Welt mit ihren Geheimnissen und ihrem Leid hinter mir lassen können.«
Aus dem Augenwinkel sah Jenna, wie Leander den Kopf hob und in ihre Richtung blickte.
»Na ja, es ist auch erst das zweite Mal für mich, dass ich fliege«, erklärte Morgan und beugte sich zu einer kleinen Handtasche hinunter, die neben ihrem Sitz stand. »Ich bin froh, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.« Sie richtete sich wieder auf, ohne Jenna anzusehen. Diese vermutete, dass sie das bewusst tat.
»Lass mich raten: Das erste Mal war dein Flug nach Los Angeles.«
Morgan verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln. »Ich komme nicht sehr viel in der Weltgeschichte herum«, erklärte sie mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme.
Das Flugzeug blieb mit einem Ruck stehen. In einer fließenden Bewegung löste Leander seinen Sicherheitsgurt und erhob sich. Dann schritt er still durch die Kabine zum vorderen Teil des Flugzeugs, wo er hinter der Trennwand verschwand.
»Du kannst aufhören, Löcher in die Decke zu starren, Christian.« Morgan blickte in Christians Richtung. Er lag noch immer auf dem Sofa. Sie stand auf und nahm ihre Tasche und ihren Mantel. »Wir sind da.«
Er drehte den Kopf und sah Jenna einen Moment lang forschend an, ehe er aufstand. Es war der gleiche Blick, den sie auch von Leander kannte und der ihr ebenso wie bei ihm die Röte in die Wangen trieb. Hastig schaute sie weg und konzentrierte sich darauf, ihren Sicherheitsgurt zu lösen und ihre Dinge zusammenzusammeln.
Sie hätte sich keine Sorgen wegen der gemeinsamen Autofahrt machen
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