Nachtjaeger
wilden Senf und Himbeeren, und selbst einige Morcheln zeigten ihre blassen Köpfe auf einem verbrannten Fleck Erde ganz in der Nähe. Jenna hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte zu essen, und sie hatte zu trinken.
Was sie nicht hatte, war irgendeine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.
Den ersten Tag verbrachte sie in einem Zustand des Zorns, der sich so anfühlte, als ob er nicht in ihrem Inneren, sondern um sie herum wäre. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr überallhin folgte, ein dichter Nebel aus Wut, durch den sie kaum zu blicken vermochte. In ihr selbst spürte sie nichts – kein Licht, keine Hoffnung, nichts Festes oder Greifbares. Es schien so, als ob die enormen Gefühle nicht in ihren Körper passten, sondern mehr Raum bräuchten, um zu atmen.
Sie hingegen konnte nicht atmen. Sie verbrachte viele lange Minuten der Panik, in denen sie nach Luft schnappte und sich sicher war, jeden Moment einem Herzinfarkt zu erliegen, so groß waren die Schmerzen in ihrer Brust.
Als die Sonne unterging und der Wald in dämmriges Licht getaucht war, nahmen die Schmerzen ab. Statt der hoffnungslosen Qual erfüllte sie jetzt gedämpfte Pein. Der Himmel wurde in ein leuchtendes Fuchsiarot getaucht, als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. Jenna stand da, beobachtete das rosafarbene und violette Farbenspiel und dachte an ihr Zuhause. Ihr winziges Apartment am Strand, das Welten von dieser Umgebung entfernt war. Es fehlte ihr auf einmal mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Sie vermisste Mrs. Colfax und Becky und ihre Arbeit bei Mélisse, ja selbst für den hysterischen Geoffrey empfand sie so etwas wie Nostalgie. Zumindest waren diese Leute real und zuverlässig gewesen, ihre Heimat.
Hier hingegen war sie nicht zu Hause. Es würde auch niemals ihre Heimat sein. Und diese Leute … Christian hatte recht. Diese Leute waren Tiere.
Sie schlief neben der kalten Feuerstelle ein, zitternd wie ein Hund. Immer wieder lauschte sie den Geräuschen der kleinen Kreaturen des Waldes, die mit der Dunkelheit aufwachten.
Als sie schließlich am Morgen wieder ganz zu sich kam, hatte sie einen steifen Nacken und starre Glieder. Doch ihr Kopf fühlte sich klar an – so klar wie der Sonnenaufgang, der über den rauchig-violetten Hügeln in der Ferne zu sehen war. Es gab keine weiteren Antworten mehr, nichts, das noch etwas in Ordnung bringen oder ihr helfen könnte, alles besser zu verstehen.
Sie beschloss, dass es weniger wichtig war, die Vergangenheit zu verstehen, als sich der Zukunft zuzuwenden.
Sie würde abreisen. Sie würde diesen Ort, seine mythischen Wesen und den Schrecken all der Geheimnisse, die es hier gab, verlassen. Sie wollte ein neues Leben irgendwo auf der Welt beginnen, ganz für sich.
An irgendeinem Ort, an dem man sie nicht finden konnte.
Sie wusste, wie man sich versteckte. Das war ihr als Kind von einem wahren Experten beigebracht worden. Sie würde im Wind verschwinden und für immer fort sein. Endlich wäre sie frei.
Doch in dem Moment, in dem sie ihre Entscheidung gefällt hatte und den Rücken durchdrückte, um sich in Nebel zu verwandeln und von der Luft fortgetragen zu werden, trat sie auf diesen verdammten Stein. Ganz gleich, wie sehr sie es auch versuchte: Sie konnte sich nicht mehr verwandeln. Sie konnte nicht mehr entkommen.
Jenna blieben nun zwei Möglichkeiten: Entweder lebte sie so lange sie konnte im Wald weiter, wo sie nach Essen suchen musste und den Elementen ausgeliefert wäre, oder sie kehrte in die Höhle des Löwen zurück. Sie brauchte eine Stunde, um das Für und Wider beider Alternativen abzuwägen. Dann traf sie ihre Entscheidung.
Tod durch Verhungern oder Erfrieren war nur ein Bruchteil weniger attraktiv als die Rückkehr nach Sommerley.
Die nächsten zwei Tage verbrachte sie damit, nackt, hungrig und nur mit der groben Decke um die Schultern durch den Wald zurück zum Herrenhaus zu laufen. Ihre Haut war von einer feinen Schicht Schmutz bedeckt, da sie auf dem blanken Erdboden schlafen musste. Der Schnitt in ihrem Fuß wurde schlimmer, je länger sie lief. Das Dickicht aus Baumstämmen, Steinen und Pflanzen riss die Verletzung noch weiter auf. Außerdem hatte sie sich nun eine Infektion zugezogen.
»Ich frage mich, wie du es geschafft hast, Leanders Wachen im Wald und um das Haus herum zu meiden. Wie ist es dir gelungen, einfach hier hereinzuspazieren, ohne dass auch nur eine einzige Seele etwas bemerkt hat?«
Morgan hob den Blick von Jennas linkem
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