Nachtjaeger
um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt breitete sich wieder Panik in ihr aus. »Ich wusste es«, sagte sie. Ihr Mund war staubtrocken geworden. »Ich wusste, dass ich ihm nicht vertrauen darf. Er hatte nie vor, mich wieder gehen zu lassen, nicht wahr?«
Morgans Gesicht zeigte erneut einen Ausdruck, den Jenna nicht deuten konnte. Ihre Augen schimmerten mit einer seltsamen Härte und Nachdenklichkeit. Einen Moment lang wanderte ihr Blick zum Fenster. »Es sei denn …«
»Es sei denn was?«, fragte Jenna scharf.
Morgans Blick kehrte wieder zu ihr zurück. Als sie sprach, klang ihre Stimme dringlich. Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen. »Wie ist es dir gelungen, nach Sommerley zurückzukehren, Jenna?«
»Ich bin gelaufen. Das habe ich dir doch schon erzählt.«
»Ja, ich weiß. Zwei Tage lang. Durch Wälder, in denen du noch nie zuvor gewesen bist. Du bist einer Armee der besten Jäger dieser Welt ausgewichen, um dann einfach durch die offene Küchentür hier hereinzuspazieren. Aber woher wusstest du, welche Richtung du einschlagen musstest?«
Aus irgendeinem seltsamen Grund zeigte sich in Morgans Gesicht ein Ausdruck ungläubiger Erwartung – als ob sie gerade um eine Ecke blicken würde, hinter der ein Einhorn mitten im Zimmer stand.
»Ich bin ganz einfach …« Jenna suchte nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was sie zurückgeführt hatte. »Ich bin ganz einfach der Spur gefolgt.«
Morgan starrte sie noch immer schweigend und voll Erwartung an. Jenna fuhr also fort.
»Da war eine Spur …«
»Dein Duft? Hast du vielleicht deinen eigenen, tagealten Geruch wiedererkannt?«, unterbrach Morgan.
»Ja, mein Geruch war natürlich offensichtlich. Aber da gab es auch … dieses Licht.«
Es war nicht das passende Wort, um die Energie zu beschreiben, die sie gespürt hatte, als sie sich niedergekniet und den Schnitt in ihrer Fußsohle untersucht hatte. Sie schloss einen Moment lang die Augen und sah erneut die konzentrischen Kreise unter ihren Lidern, ein schwaches, diamantweißes und goldenes Schimmern, das in den Wald hineinführte. Wenn sie die Augen öffnete, war es verschwunden. Doch sobald sie die Augen wieder schloss, kehrte es zurück. Das Licht glitzerte wie ein mit Wimpeln versehener Kreis, der sie stetig nach Süden lockte, auch wenn sie den Kopf hin und her drehte, um zu sehen, ob es sich bewegte.
Sie wusste instinktiv, dass es sie selbst war, die sie da sah – ein flüchtiger Abdruck ihres Selbst, als sie wie ein Pfeil durch den Wald geschossen war. Sie wusste, dass sie mithilfe ihres eigenen Lichts nach Sommerley zurückfinden würde.
»Du konntest deinen eigenen Wärmeabdruck sehen«, sagte Morgan ausdruckslos. »Du konntest deinen Geruch wahrnehmen und deinen Wärmeabdruck sehen – obwohl beides bereits mehr als zwei Tage alt war.« Sie ließ sich wankend auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes nieder. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Ich weiß nicht, wie ich es genau erklären soll … Aber ja, das klingt in etwa richtig.« Jenna musterte Morgans Gesicht, das plötzlich kreidebleich geworden war. »Wieso? Was bedeutet das? Kannst du das nicht auch? Kann das nicht jeder hier?«
»Ich … Ich …« Morgan räusperte sich und begann heftig zu blinzeln. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und ihre Wangen röteten sich. »Und jetzt, wenn du jetzt deine Augen schließt, kannst du dann auch etwas sehen?«
Jenna zog eine Augenbraue hoch. »Woher weißt du, dass ich meine Augen geschlossen hatte?«
»Versuche es einfach«, flüsterte Morgan. »Es ist sehr wichtig, Jenna. Bitte, versuch es.«
»Ich muss mich dringend duschen, Morgan. Außerdem habe ich einen unglaublichen Hunger und bin vor Erschöpfung nahe der Ohnmacht. Ich finde nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für mich ist …«
»Marie Antoinette«, unterbrach sie Morgan mit einem heiseren Flüstern.
Jenna sagte nichts. Sie sah Morgan nur fragend an. Diese saß nun aufgeregt auf dem äußersten Rand des Stuhls. »Sie war die letzte Ikati …«
»Eine Königin. Ja. Ich weiß. Eure dem Untergang geweihte Vorfahrin, die Königin von Frankreich. Was soll mit ihr sein?«, fragte Jenna ein wenig gereizt. Ihr Fuß pochte schmerzhaft, sie verlor allmählich die Geduld, und ihr Magen verkrampfte sich so sehr, dass sie befürchtete, er würde sich vor Hunger bald selbst verdauen.
Morgan wirkte äußerlich wieder gefasster. Sie atmete normal, aber Jenna konnte das wilde Hämmern ihres Herzens hören, das
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