Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
vollzählig sein. Wer von Ihnen hat schon einmal an einer gerichtsmedizinischen Obduktion teilgenommen?« Obwohl jeder der Anwesenden bereits im letzten, sogenannten praktischen Jahr war, hob niemand die Hand. »Schön!«, stellte Dr. Gruber ironisch fest. »Dann hat Sie auch noch keiner meiner Kollegen versauen können.« Es folgte eine kurze Pause, nach der Dr. Gruber ein wenig ernster fortfuhr: »Natürlich möchte ich meinen Kollegen nichts unterstellen, aber ich halte es für sinnvoller, Sie von Anfang an einzubinden, als Sie nur zusehen zu lassen. Das heißt, Sie werden die Untersuchungen von Beginn an selbst durchführen und ich passe nur auf, dass alles gesetzeskonform läuft. Sind Sie sich ab sofort bewusst, dass dies keine Übung ist und dass das Untersuchungsergebnis zu der Aufklärung eines Verbrechens herangezogen wird?«
Nun hatte der Arzt die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Studenten und selbst der sonst nur gelangweilt dreinschauende René schien sich der Ernsthaftigkeit dieses Vormittages bewusst zu sein. Wieder einmal begriff Anja nicht, warum es ihre beste Freundin gerade auf solche Typen abgesehen hatte, doch weiter als bis zu diesem Gedanken kam sie nicht, da Dr. Gruber erneut zu sprechen begann.
Mit einer Geste zu der abgedeckten Leiche erklärte er: »Folgende Informationen haben wir ...«, nun zog er das Tuch ein Stück zurück, wodurch das Gesicht einer jungen, asiatisch aussehenden Frau zu Vorschein kam, die auf den ersten Blick unverletzt aussah, »... diese junge Frau, möglicherweise asiatischer Herkunft, wurde vorgestern Morgen gegen 8 Uhr von den Mitarbeitern einer Abrissfirma im Keller einer alten Fabrik gefunden. Die Frau, Name und Alter sind noch unbekannt, war an einen Betonpfeiler gefesselt und schien äußerlich unverletzt zu sein. Der Notarzt äußerte die Vermutung, dass die Frau an Dehydration gestorben ist. Das würde heißen, sie hing so lange an diesem Pfeiler, bis sie schließlich verdurstet ist. Und hier kommen Sie ins Spiel, es ist jetzt Ihre Aufgabe herauszufinden, was mit dieser Frau geschehen ist.« Dr. Gruber wartete, bis sich das erste Entsetzen gelegt hatte, dann fragte er: »Gibt es jemanden, der hier abbrechen möchte? Wer jetzt bleibt, muss bis zum Ende bleiben und mir unterschreiben, dass alles, was in diesem Raum passiert, streng vertraulich behandelt wird.«
Da alle, bis auf einen etwas blass wirkenden Studenten, den Anja nur vom Sehen kannte, mit dem Kopf schüttelten, sprach ihn Dr. Gruber nun direkt an: »Alles klar, Herr Janek?«
Der junge Mann warf noch einen Blick auf das leblose Gesicht der Toten und sagte leise: »Ich weiß auch nicht, mir ist ein wenig schlecht. Es ist vermutlich besser, wenn ich ein anderes Mal teilnehme.«
Der Doktor nickte und sagte ohne jeden Vorwurf in der Stimme: »Kein Problem, aber ich muss auch Sie bitten, über das bereits Gehörte Stillschweigen zu bewahren, da es sich um laufende Ermittlungen handelt.«
Um Janek war es offenbar schlechter bestellt, als es zunächst wirkte. Zwar schaffte er es noch, dem Doktor seine Verschwiegenheit zu bestätigen, dann verließ er den Sektionssaal allerdings fluchtartig und kurz darauf drang ein leises, würgendes Geräusch von draußen herein.
Dr. Gruber warf einen Blick auf die große Wanduhr, klatschte in die Hände und drängte: »Jetzt aber los, wir sind spät dran! Ich würde vorschlagen, Sie bilden, so wie Sie jetzt zusammenstehen, Zweiergruppen. Jede Gruppe begutachtet zuerst eigenständig unsere Unbekannte hier«, wieder folgte eine Geste in Richtung des bläulich-blassen Kopfes der Toten, »und danach vergleichen wir alle Befunde. Wie wir es nachher mit dem Öffnen des Körpers machen, überlege ich mir noch. Vielleicht darf derjenige mit dem präzisesten äußeren Befund die Schnitte durchführen.«
»Was für eine Motivation«, raunte Anja Florian, mit dem zusammen sie eingeteilt war, zu, worauf dieser antwortete: »Ist der Doktor nicht bekannt für solche Späße? Ich hörte, dass er zwar eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist, aber nicht jeder mit seiner Art zurechtkommt.« Anja nickte zustimmend, unterschrieb wie alle anderen die Verschwiegenheitserklärung und nahm sich anschließend eins der Klemmbretter, worauf sie ihre Beobachtungen dokumentieren konnten.
Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, zog der Doktor das Tuch komplett von der Toten und überließ den Studenten das Feld.
Anja schluckte. Natürlich hatte sie während der letzten Jahre schon
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