Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
der Geburt fast gestorben und überlebte nur durch einen sehr fähigen Arzt, der sich nicht hinter Vorschriften versteckte, aber egal.« Anja nahm einen Schluck Cola und erzählte weiter: »Jedenfalls stellte sich recht schnell heraus, dass Gerald nicht ganz gesund war. Es folgten endlos viele Untersuchungen und Tests, doch am Ende waren sie sich sicher, unser Bruder leidet an Autismus. Nora und ich liebten unseren kleinen Bruder, doch bei unseren Eltern lief es anders. Unser Vater war immer unser Held gewesen. Er stand hinter uns, wo es auch nötig war, aber mit Gerald veränderte sich alles. Unser Vater zeigte sein wahres Gesicht ... ein feiges Gesicht.« Anja hatte schon lange nicht mehr deswegen geweint, doch diese eine Träne konnte sie nicht zurückhalten. Florian legte seine Hand in die Nähe der ihren, überließ es aber ihr, ob sie sie nehmen wollte.
Anja ließ es und versuchte ihrer Stimme wieder einen festen Klang zu geben: »Ein halbes Jahr lang konnte unsere Mutter es noch hinauszögern, dann verschwand er über Nacht, kommunizierte nur noch über Anwälte mit ihr und ließ uns alle vier einfach zurück. Das Ganze ist jetzt ungefähr elf Jahre her und weder Nora noch ich haben ihn je wiedergesehen. Seit dieser Zeit kümmert sich hauptsächlich unsere Mutter um Geralds Pflege, was weiß Gott kein Zuckerschlecken ist.«
Anja blickte vom Tisch hoch in Florians Augen, dann sagte sie leise: »Ich mag dich. Aber du musst verstehen, dass es bei mir länger dauert, bis ich einem Mann vertraue. Es gab natürlich auch schon vor dir Freunde in meinem Leben, aber keiner hatte die Geduld, mir die nötige Zeit zuzugestehen.« Nun wurden ihre Gesichtszüge härter und ihr Körper versteifte sich etwas. »Du siehst, ich bin kein einfacher Mensch, also sieh zu, dass du noch schnell wegkommst.«
Florian wagte es, legte seine Hand auf die ihre und fragte: »Hast du am Wochenende schon etwas vor?«
Keiner von beiden wollte länger in der stickigen Luft des Cafés bleiben. Ohne weiter auf das Thema einzugehen, bezahlten sie ihre Getränke und traten hinaus auf die Straße. Florian begleitete sie noch bis zu der Bushaltestelle, wo sie trotz des leichten Nieselregens abseits der anderen Fahrgäste neben dem Unterstand warteten. Da Anja seine Frage immer noch nicht beantwortet hatte, unternahm er einen weiteren Anlauf, indem er vorschlug: »Kann ich dir meine Handynummer geben? Vielleicht hast du ja doch Lust etwas zu unternehmen.«
Anja überraschte diese Frage. Irgendwie war es ihr als selbstverständlich erschienen, dass sie Florian am Wochenende wiedersah, aber auf die Idee, dass man das auch organisieren musste, war sie nicht gekommen.
Als beide ihre Nummern getauscht hatten, fragte Florian scheinbar beiläufig: »Was ist eigentlich mit deiner Schwester, lebt sie noch bei euch zuhause?« Dann stockte er und sagte verlegen: »Entschuldige, ich wollte dich nicht mehr daran erinnern, es ist mir nur gerade so eingefallen. Deine Geschichte geht mir die ganze Zeit im Kopf herum.«
Anja lächelte: »Kein Problem und bitte kein Mitleid, eigentlich komme ich mit dem Thema ganz gut klar«, und tatsächlich war nun keinerlei dunkler Schatten mehr in ihrer Mimik zu erkennen. »Nein, meine Schwester ist ausgezogen, als vor vier Jahren ihr eigenes Kind unterwegs war. Allerdings ist auch sie inzwischen alleinerziehend ...« Mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: »Männer eben. Scheint bei uns in der Familie zu liegen.«
Als der Bus einfuhr, mussten beide einen Satz nach hinten machen, um nicht von der Wasserfontäne getroffen zu werden. Lachend hielten sie sich aneinander fest, was Anja aber sofort wieder löste. Trotzdem gab sie Florian noch einen Kuss auf die Wange und sagte schon im Gehen: »Meine Nummer hast du ja jetzt!« Dann sprang sie in den Bus und fuhr irgendwie befreit nachhause.
7
Trotz des trüben kalten Herbstwetters hatte Anja schon lange kein so entspanntes Wochenende mehr verbracht. Abgesehen davon, dass sie sonst in der Klinik vorzugsweise als Wochenendbereitschaft eingeteilt wurde, tat ihr vor allem Florians Gesellschaft gut. Sie erkundeten Erlangens botanischen Garten, gingen heißen Kakao trinken und gönnten sich abends einen etwas teureren Italiener.
Einzig Ute trübte am späten Sonntagvormittag etwas Anjas Stimmung, da es diese nach ihrem Missgeschick bei der Obduktion nicht mehr wagte René anzurufen und sich von Anja alleingelassen fühlte. Nichtsdestotrotz verbrachten Anja und Florian auch den
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