Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
Stimme des Mannes hatte eine fast verträumte Note bekommen. Mike nahm den Faden auf und fragte leise: »Ihre Schwester hat auch so gerochen?«
»Ja, ich hielt sie bis zum Schluss in meinen Armen.«
»War sie krank?« Mike wusste, dass er vorsichtig sein musste. Ihm war es gelungen, seine Armbanduhr zu öffnen, und er bearbeitete jetzt mit der scharfen Kante des Verschlusses das Seil zwischen seinen Händen. Er musste den Typen irgendwie ablenken und das Thema schien geeignet. Der Mann schüttelte den Kopf: »Nein, sie war nicht krank ... aber unser Vater war es.« Täuschte sich Mike, oder stand dem Typen, als er weitersprach, tatsächlich eine Träne im Auge?
Mit verklärter Stimmer erklärte dieser: »Wir wohnten damals auf einem Bauernhof und da gab es so eine alte, eingegrabene Kiste hinter dem Haus. Immer wenn meine Schwester oder ich etwas angestellt hatten, steckte uns unser Vater da hinein, schloss den Deckel und ließ uns darin nachdenken, wie er zu sagen pflegte.
An einem kalten Winterabend war es wieder so weit. Stunde um Stunde verging. Wir schrien und klopften, aber niemand kam und die Temperatur fiel immer weiter. Eine Stunde nachdem meine Schwester ihren letzten Atemzug getan hatte, war mein Vater endlich besoffen genug, dass unsere Mutter es wagen konnte, sich hinauszuschleichen und die Kiste zu öffnen. Ich lag so eng bei meiner Schwester, dass ich jedes Stadium des Sterbens riechen konnte ...« Für einen kurzen Augenblick herrschte völlige Stille in dem Keller der alten Industrieanlage und Mike nahm wahr, wie der Mann sich wieder fasste. Als würde er nun von einer Urlaubsreise erzählen, beschloss er seine Geschichte mit den Worten: »Meine Mutter fand man einen Tag später erhängt in unserer Scheune, aber da saß mein Vater schon im Gefängnis.«
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wendete er sich ab, griff in eine kleine Sporttasche, die etwas am Rand stand und zog Mikes Pistole heraus: »So, genug jetzt. Möchten Sie noch etwas sagen?«
Mike musste hart schlucken, wobei seine Hände fieberhaft das Seil hinter seinem Rücken bearbeiteten. Irgendwie schaffte er es ruhig zu bleiben, dem Irren in die Augen zu blicken und zu fragen: »Warum ausgerechnet Anja Lange?«
»Reiner Zufall. Ihr Vater saß eine Zeitlang mit Wodan und mir in einer Zelle der JVA Straubing. Er erzählte uns immer wieder von seiner Familie und dass ihn seine Frau gegenüber den Kindern verleugnete«, der Mann zuckte mit den Schultern, »was soll ich sagen, es war genau das, was wir für unser Spiel brauchten. Das Haus in abgeschiedener Lage, eine ältere Frau, die wir leicht aus dem Weg schaffen konnten. Der behinderte Bruder als Druckmittel ... sehr sympathischer Junge übrigens ... und eine junge Frau, die nicht gleich einknickte und so das Spiel spannend machte.« Nun legte sich ein Grinsen über sein Gesicht. »Aber nach allem, was ich recherchiert habe, wird es uns mit Ihrer Jenni bestimmt auch nicht langweilig werden. Ich bin wirklich schon gespannt darauf, wie es sich anfühlt, wenn ihre Haut langsam kälter wird ...«
Mikes Hände machten nur winzige Bewegungen, aber er spürte, dass das Seil schon etwas nachgab.
40
Drei Monate später ...
»Und du meinst wirklich, wir sollten das nicht melden, Chef?«
Ohne auf seinen Vorarbeiter einzugehen, umrundete Georg Bergmann den Stuhl mit dem braunen Fleck darunter ein weiteres Mal, sah sich noch einmal in dem sonst absolut leeren Kellerraum um und schüttelte den Kopf: »Was soll das schon sein? Vermutlich haben hier ein paar durchgeknallte Jugendliche ein Huhn geopfert und sich wie Helden gefühlt. Der Abriss ist nach diesem langen Winter der einzige Auftrag, den wir haben. Weißt du, was los ist, wenn wir jetzt die Polizei rufen ...«
Josef sah dabei zu, wie sein Chef einige weitere braune Flecken begutachtete, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte untergeben: »Wie du meinst. Bleibt es dabei, dass wir mit dem Schutt der oberen Konstruktion die Kellerräume füllen können?«
Bergmann löste sich von dem Anblick der Flecken, drehte sich zu seinem Vorarbeiter und bestätigte: »Ja, der neue Eigentümer des Geländes will sich Teile der Entsorgung sparen. Alles, was nicht zu viel Metall enthält, könnt ihr hier reinfallen lassen. Danach wird das Ganze mit Beton aufgefüllt und anschließend kommt der Firmenparkplatz oben drauf.«
»Alles klar. Ich sage den Leuten Bescheid und morgen Abend wird es die Halle nicht mehr geben.«
Die beiden
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