Nachtklinge: Roman (German Edition)
passiert?«
»Er hat mich angeschrien.«
Auch als sie den Satz wiederholte, konnte Tycho sich keinen Reim darauf machen. Er spähte in die Nebelschwaden, versuchte, Giuliettas Geruch im Wind wahrzunehmen. Das Einzige, was er spürte, war eine vollständige Abwesenheit. »Ist einer der beiden verletzt worden?«
Rosalie schüttelte den Kopf. »Er hat sie nicht angeschrien.«
Ihre Wunden begannen sich bereits zu schließen. Mit seinem Blut hatte sie offenbar auch seine Selbstheilungskräfte aufgenommen. Ihr Mund sah nicht mehr verzerrt aus, als sich die entstellende Wunde daneben schloss.
»Beschreib ihn«, forderte Tycho.
»Hoch gewachsen, dünn, trägt ein dunkelrotes Gewand«, erwiderte sie. »Er hat die gleichen Augen wie du.«
»Wie meinst du das?«
»Harte, zornige Augen.«
Das entsprach nicht dem Bild, das Tycho von sich selbst hatte.
Aber er erkannte den Angreifer. Die Dogaressa hatte ihn beschrieben … Andronikos, der Magier des byzantinischen Kaisers. Der Mann, den das Boot mit Giulietta auf den südlichen Teil der Insel locken sollte. Er hatte ihre Ankunft gespürt und gelauert, bis Tycho sich entfernte.
Er ärgerte sich über seine eigene Dummheit.
Rosalie hatte recht, Tycho war zornig. Ein bitterer, grenzenloser, unnatürlicher Zorn erfüllte ihn. Er fragte sich, ob Andronikos den Nebel vergiftet hatte und ob seine unbezähmbare Wut eine Schwäche oder eine Stärke war.
»Beschreib
genau,
was sich abgespielt hat.«
Während sie erzählte, ging er mit ihr auf ein altes Klostergebäude zu, das sich im Nebel abzeichnete. Davor befand sich ein Obstgarten mit ordentlich gestutzten Apfelbäumen. Die überreifen Früchte erfüllten die Luft mit süßlichem Duft und überdeckten die Spur, nach der er suchte.
Rosalies Geschichte war kurz.
Die drei waren allein gewesen.
Und dann plötzlich nicht mehr. Sie hatte den dünnen Mann weder gehört noch gesehen und hatte ihn erst bemerkt, als er Giuliettas Namen gerufen hatte.
»Und dann?«
»Ist sie zu ihm gegangen.«
»Sie ist einfach zu ihm gegangen?«
»Er hat gesagt, dreh dich um, und sie hat gehorcht. Er hat gesagt, komm zu mir, und sie hat es getan, mit Leo auf dem Arm.«
»Und was hast du getan?«
»Ich habe ihn angegriffen.« Rosalie sah düster drein. »Es ist mir übel bekommen.«
Am Zweig eines Apfelbaums entdeckten sie ein Band von Giuliettas Kleid, im Schlamm war ein Abdruck ihres Fußes zu erkennen. Ihre Spuren, die durch den Obstgarten führten, waren auffallend gut zu erkennen. Vielleicht hatte Giulietta ihre Schritte mit Absicht in den weichsten Boden gesetzt. Nachdenklich folgte Tycho der Spur.
»Er hat dich angeschrien?«, fragte er Rosalie schließlich.
»Es war, als würde er mit hundert Messern auf mich losgehen. Dabei hat er nur ein einziges Wort gesagt.«
»Welches denn?«
Sie wandte sich ab und brach ihr störrisches Schweigen nur, um zu behaupten, es sei irgendein ausländisches Wort gewesen. Er wusste, dass sie log.
Und Rosalie wusste, dass er es wusste.
Tycho fiel die goldene Inschrift auf der schwarzen Kugel ein, die Alexa ihm gegeben hatte. Gerade als er Rosalie auffordern wollte, ihm die Wahrheit zu sagen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dann entdeckte er, was sie gesehen hatte.
»Dort, zwischen den Bäumen.«
Er nickte. Es war nicht Andronikos, das wäre zu einfach gewesen. Der Magier hatte das Boot wahrscheinlich schon fast erreicht.
Dort vorn ragte ein Schatten auf, zu dem sich weitere Schatten gesellten. Ihre Umrisse veränderten sich. Ausgemergelte Leiber mit gekrümmten Klauen und messerscharfen Fangzähnen. Das silbergraue Fell des Jagdrudels glänzte im Nebel. Schließlich richteten sich die Figuren auf, ihre Verwandlung war abgeschlossen.
»Mein Gott«, stieß Rosalie hervor.
Sie war dabei gewesen, als die Kriegshunde die Klinge des Dogen beinahe vollständig vernichteten, um Prinzessin Giulietta zu entführen. Rosalie, Graf Atilo und Giulietta selbst hatten Tycho von jener Nacht berichtet.
Die Erzählungen waren alle unterschiedlich, bis auf die Beschreibung der Bösartigkeit des Kriegshundrudels. Prinz Leopold war der einzige Wolfsbruder, gegen den Tycho je gekämpft hatte, und er hatte diesen Gegner nur mit Mühe bezwungen.
58
A n manchen Tagen fühlte sich Giulietta zu erwachsen für ihre achtzehn Jahre und an anderen zu jung.
Heute Abend empfand sie beides zugleich.
Sie fühlte sich jung und verängstigt, als der Fremde sie zur Eingangspforte eines Friedhofs zerrte. Zugleich war sie so
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