Nachtklinge: Roman (German Edition)
erschöpft von den Grausamkeiten der vergangenen Jahre, dass sie den Tod begrüßt hätte, wäre Leo nicht gewesen. Sie schlang die Arme fester um ihren Sohn.
Und wo war Tycho? Irgendwo dort draußen.
Natürlich
gehörte es sich nicht,
einen ehemaligen Sklaven zu lieben.
Man hatte diese Worte in sie hineingepeitscht. Es wäre sowieso vernünftiger gewesen, ihn zu hassen. Tycho hatte Leopold verraten, und er würde sie ebenfalls im Stich lassen. Wenn es ihm nicht gelungen war, Leopold zu retten, wie sollte er ihr dann helfen?
Natürlich hatte er geschworen, dass er Leopold nicht hatte retten können, aber das war eine Lüge gewesen. Allerdings, meldete sich eine innere Stimme, hatte er die Wahrheit gesagt. Er hatte ja zugegeben, dass es möglich gewesen wäre, wenn er nur gewusst hätte, wie.
Die Selbstverachtung in seiner Stimme hatte keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit gelassen.
Selbstverachtung war ein Gefühl, das sie bestens kannte. Prinzessin Giulietta die Nutzlose. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen, und sie hatte verdient, was mit ihr geschah. Sie hatte alles verdient. Sie sah auf und in das höhnische grinsende Gesicht ihres Entführers. Plötzlich begriff sie. Er gab ihr diese Gedanken ein.
»Ich habe das
nicht
verdient«, sagte sie entschieden.
Andronikos wandte sich ab, und sie verabscheute ihn aus tiefstem Herzen.
»Wir sind beinahe am Ziel.«
»Wohin gehen wir?« Giulietta bereute die Frage sofort.
Sie durfte nicht mit ihm reden, sondern musste auf einen Fluchtplan sinnen, aber es fehlte ihr an der nötigen Willenskraft. Ergeben trottete sie hinter ihm her. Sie hatten den von Nebelschwaden umzogenen Friedhofseingang passiert, und die Grabsteine glichen halben Soldaten, wie sie so krumm aus der Erde ragten.
Eine schmale Holzbrücke führte über ein träges Flüsschen, das man eines Tages mit Mauern einfassen würde. Man würde Pfähle in den Schlick treiben und darauf Häuser errichten, aber Giulietta befürchtete, dass sie dann nicht mehr da sein würde.
»Hier ist Euer versprochenes Geschenk«, sagte Andronikos in die Stille hinein.
Er versetzte ihr einen Stoß. Sie taumelte vorwärts, verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Um ein Haar hätte sie Leo losgelassen.
»Dieses Geschenk solltet Ihr nach Möglichkeit nicht zerstören«, hörte sie Andronikos sagen.
Vor sich erblickte sie ein muskulöses, wohlgeformtes Paar Beine in Sandalen aus purpurfarbenem Leder. Kräftige Finger griffen in ihr Haar und bogen ihren Kopf zurück, sodass sie gezwungen war, aufzusehen. Mit der anderen Hand packte er ihr Kinn.
Prinz Nikolaos glich einem griechischen Gott. Blonde Locken, breite Schultern, eine schwarze Brustplatte mit dem vergoldeten Abbild eines Medusenhaupts. Er trug ein sonderbar kurzes Schwert, sein Umhang war ebenfalls kurz und purpurfarben. Auf ihrem Gesicht spürte sie den schmerzhaften Abdruck seiner massiven, reich verzierten Ringe.
»Du hast gesagt, sie sei hässlich«, ließ sich der Mann auf Lateinisch vernehmen, mit unverkennbar byzantinischem Akzent. »Du solltest mich nicht belügen.«
Vielleicht nahm er an, dass sie kein Latein verstand.
Andronikos antwortete in derselben Sprache. »Ihr solltet besser zuhören, Hoheit. Ich habe lediglich gesagt, die meisten Berichte würden sie als hässlich beschreiben. Dünn, kleine Brüste, schmale Hüften, von üblem Temperament …«
»Genau so mag ich die Frauen.«
»Dann kommt Ihr wahrscheinlich wunderbar miteinander zurecht. Jetzt müsst Ihr mich entschuldigen. Ich muss sicherstellen, dass sich Alexas Liebling und unsere behaarten Freunde gegenseitig an die Gurgel gehen.«
Im Nu war er im Nebel zwischen den Gräbern verschwunden, während Giulietta zu Füßen des Prinzen zurückblieb.
»Da du schon da unten bist …«
Sie blickte verständnislos auf.
»Ach, du kleines Unschuldslamm. Und ein Kind hast du auch noch.«
Nikolaos half ihr auf die Füße und begrapschte eine ihrer Brüste, bevor er sie losließ. Giulietta wich empört zurück und wollte protestieren.
»Es wird mir hier gefallen. Prinz Nikolaos, Doge von Venedig, und seine schöne, feurige Gemahlin.«
Giulietta fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
»Aber für Spaß und Spiel haben wir später noch reichlich Zeit. Wir wollen folgsam sein und uns benehmen, wie Andronikos es wünscht. Er kann sehr übellaunig werden, und das ist im Allgemeinen eher unerfreulich. Natürlich bin ich der Prinz und er bloß ein Berater. Trotzdem reißen wir uns lieber
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