Nachtklinge: Roman (German Edition)
Ganz allein war sie also doch nicht unterwegs.
»Woher habt Ihr den Fackelträger?«
»Von der Piazza San Marco.«
»Ihr habt einen fremden Mann angeheuert, damit er Euch durch die halbe Stadt begleitet?«
»Pietro ist krank, und Iacopo konnte ich kaum fragen.«
Tycho hatte etwas anderes gemeint. »Was sagt Ihr Graf Atilo, wenn er Euch fragt, wo Ihr gewesen seid?«
»Ich habe der Dogaressa einen Besuch abgestattet.« Sie hob trotzig das Kinn. »Wir haben in ihren Privatgemächern Tee getrunken. Er wird wohl kaum behaupten, dass ich lüge, oder?«
30
A lexa war beeindruckt. Wer hätte hinter Desdaios hübscher Stirn so viel Gewitztheit vermutet?
Nachdem der Maure gegangen war, hatte sie aus reiner Gewohnheit die Jadeschale gefüllt. Was sie darin erblickte, war erheblich interessanter als die heutige Ratssitzung oder die unergiebige, anschließende Plauderei mit Atilo.
Er wird wohl kaum behaupten, dass ich lüge …
Vielleicht war die Verlobung der Kleinen doch ein strategischer Schachzug, um sich gleichzeitig das väterliche Vermögen und die Machtstellung des Mauren zu sichern? Eine interessante Überlegung.
In diesem Fall müsste Atilos taubenäugige Schöne natürlich sterben. Aber das waren nur frivole Gedankenspiele. Alexa hatte wichtigere Dinge zu bedenken.
Sollte sie Desdaio beobachten oder lieber Tycho?
Oder sich womöglich auf Iacopo konzentrieren, einen anderen Mitspieler des heutigen Abends? Der Schützling ihres Schwagers war unmittelbar nach diesem rührenden kleinen Zwischenspiel wie von Geisterhand vor Tychos Haus aufgetaucht.
Die Welt war eine Bühne und alle Männer und Frauen spielten ein großes Stück, doch sie konnte in ihrer Jadeschale immer nur einem Menschen folgen.
Sie beschloss, sich an Atilos Diener zu halten, der sich murmelnd an Desdaios Fersen geheftet hatte. Die Gräfin ihrerseits schlenderte sorglos durch die dunklen Gassen.
Zum Tee bei Dogaressa Alexa. Von wegen!
Lächelnd zog sie die Schale dichter zu sich heran und lauschte Iacopos erbostem Flüstern. »Endlich hab ich dich! Jetzt zappelst du am Haken. Auf diesen Moment habe ich verdammt lange gewartet.«
Was für ein charmantes Bürschchen, dachte Alexa.
Sie hatte gesehen, wie Iacopo an Tychos Hausmauer emporgeklettert war und mit gerecktem Hals durch die Ritzen der Fensterläden spähte.
Alexa hatte gehört, was Iacopo hörte … Desdaios kleinen Aufschrei, leise und doch laut genug, um die gedämpfte Unterhaltung zu übertönen. Ein Keuchen, ein Wimmern, gefolgt von Tychos besänftigendem Raunen.
»Als wärst du der Einzige, der sie zum Winseln bringt«, stieß Iacopo zwischen den Zähnen hervor.
Seine leidenschaftliche Wut verwunderte Alexa.
Wollte sie wirklich in die Abgründe seiner Seele eindringen? Tief eintauchen statt nur beobachten, fühlen, was er fühlte, denken, was er dachte? Während sie zusah, wie er in den dunklen Gassen hinter der Geliebten seines Meisters herschlich, erwog Alexa ernstlich, ob es nicht besser wäre, schlafen zu gehen, und breitete ein Tuch über die Schale.
Doch ihre Unruhe war zu groß und die Luft zu stickig. Intrigen und Gerüchte füllten den Dogenpalast wie giftiger Nebel. Ihr Schwager tat geheimnisvoll, war stets betrunken und in Gespräche mit Graf Roderigo vertieft. Vermutlich wollte er sie nur von seinen wahren Plänen ablenken. Die Iacopo gerade ausführte?
Ihr blieb nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie zog das Tuch wieder fort und blickte erneut auf die Wasserfläche.
Alexa öffnete ihren Geist, und die Gedanken der Bewohner dieser Stadt strömten auf sie ein. Die grelle Geräuschkulisse ließ sie zusammenzucken. Bald hatte sie Iacopo unter den vielfach verschlungenen Gedanken der Bewohner entdeckt. Sie blendete alle anderen Geräusche aus, bis sie nur noch seine hasserfüllte, innere Stimme vernahm.
Der Maure hätte auf mich hören sollen.
Ich habe ihm gesagt, dass Gräfin Desdaio in Tychos Kammer gegangen ist, damals, als er noch ein Sklave war. Ich habe immer gedacht, er hätte sie damals schon bestiegen und die Schlampe hätte ihre Jungfräulichkeit nur vorgetäuscht. Irrtum. Offensichtlich haben sie nur getändelt und sie hat an Bord des
bucintoro
vor den versammelten Adligen der Stadt die Wahrheit gesagt. Damals war sie noch unberührt.
Aber damit ist es jetzt vorbei.
Man stelle sich vor, sie würde beim Frühstück zu ihrem Verlobten sagen: Erinnerst du dich an deinen ehemaligen Sklaven und Lieblingslehrling Tycho? Nun, heute Nacht hat er
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