Nachtklinge: Roman (German Edition)
er meine Gesellschaft.«
Tycho fragte sich, wie alt Desdaio sein mochte.
Dreiundzwanzig? Eine reiche, unverheiratete Jungfrau besaß in einer Stadt wie Venedig Seltenheitswert. Ihr Vater hatte große Pläne mit seiner schönen Tochter gehabt. Den ehrgeizigen Vater hatte sie durch den pflichtbewussten Atilo ersetzt. Es war kein besseres Schicksal. Sie war einsam und fand es schon tröstlich, wenn Atilo sie nicht ganz so häufig betrog.
»Das Mädchen hat Hunger«, sagte Desdaio mahnend.
»Ich habe nichts zu essen.«
»Dann koche ich eine Suppe.« Desdaio sprang bereitwillig auf.
»Sie braucht Blut«, sagte Tycho. Als sie ihn entsetzt anblickte, fügte er hinzu: »Das ist ein Krankheitssymptom. Ich schicke Elizavet morgen früh ins Schlachthaus.« Falls Rosalie kein Schweineblut zu sich nehmen sollte, was er befürchtete, musste er eben menschliches Blut auftreiben, auch wenn es schon schwierig genug war, sein eigenes Verlangen zu stillen.
»Warum schickst du sie nicht sofort dorthin?«
»Das kann bis morgen warten.«
»Nein, das kann es nicht. Stell dir vor, welche Schuldgefühle du hättest, wenn sie heute Nacht stirbt.« Tycho wich ihrem Blick aus. Desdaio sah mehr, als sie sehen sollte. Ihr nächster Satz bestätigte das. »Du hast überhaupt nicht die Absicht, Elizavet zu schicken.«
»Rosalie benötigt etwas anderes als Schweineblut.«
Diese neue Desdaio hatte etwas Erschreckendes. Sie bat ihn um ein kleines Messer und ein Gefäß und erklärte kurzerhand, Tycho könne bleiben oder gehen, das sei ihr völlig gleichgültig. Sie krempelte ihren Ärmel hoch, band sich den Oberarm ab und schnitt vorsichtig in die hervortretende Ader.
Sie tat es nicht zum ersten Mal, wie die säuberlich angeordneten, parallelen Narben bewiesen. Die meisten Wunden waren frisch, einige davon verheilt. »Dr. Crow«, sagte sie erklärend.
»Sind die Schnitte von ihm?«
»Nur der erste. Er hat das vorgeschlagen oder etwas anderes …« Sie lief rot an und schwieg. »Meine Stimmung wurde zunehmend düsterer, da dachte ich, Dr. Crow könnte mir helfen.«
Blut tropfte von ihrem Arm in das kleine Gefäß.
»Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt.
Natürlich ging es ihm nicht gut.
Sein Kiefer schmerzte. Er sehnte sich so sehr nach Desdaios Blut wie das Mädchen, das sich wild auf dem Bett hin und her warf.
»Denkst du, das reicht?«
Tycho sah das zur Hälfte gefüllte Gefäß. Desdaios Blut war dick und warm, er roch den betörend süßen Duft, spürte den köstlichen Geschmack beinahe auf der Zunge. »Du kannst die Wunde verbinden.«
Er kauerte neben Rosalie nieder. Obwohl er kaum hörbar flüsterte, verstand sie jedes Wort.
»Wenn du dieser Frau etwas antust, töte ich dich.« Zu Desdaio gewandt, sagte er: »Gebt ihr das Blut zu trinken, langsam und Tropfen für Tropfen.«
»Wohin gehst du?«
»Eine Etage tiefer.«
Er polterte geräuschvoll die Stufen hinunter und schlich dann lautlos wieder zurück, um vor Rosalies Tür Wache zu halten. Desdaios freundliches Geplauder war gedämpft zu vernehmen. »So«, sagte sie schließlich. »Das war der Rest.«
Rosalie stöhnte. Den letzten Satz hatte sie zweifellos verstanden.
»Vielleicht sollte ich dir noch ein bisschen mehr geben.«
»Nein«, rief Tycho.
»Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Gräfin Desdaio sah ziemlich bleich aus. Sie hatte sich ein Taschentuch um den Arm gewickelt, das Band zum Abbinden lag auf dem Tisch.
Den Arm um ihre Schultern gelegt, führte Tycho sie vom Bett weg. Zuerst sträubte sie sich gegen die vertrauliche Berührung, dann legte sie den Kopf an seine Schulter.
»Ich glaube, wir müssen keinen Anfall mehr befürchten.«
Tycho nickte zustimmend, schüttelte aber den Kopf, als sie vorschlug, Rosalie loszubinden.
»Elizavet kümmert sich später darum.«
Immer noch auf seinen Arm gestützt, ging Desdaio neben ihm die Treppe hinunter. In der offenen Eingangstür blieb sie stehen. »Du hast einmal gesagt, du würdest mich hassen.«
»Damals habe ich jeden gehasst.«
Unbeirrt fragte sie: »Hasst du mich immer noch?«
Statt einer Antwort drückte er ihr einen Kuss aufs Haar. Seine Gier nach ihrem Blut war so groß, dass die Geste hölzern wirkte. Desdaio warf ihm einen seltsamen Blick zu. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn.
»Das war eine Lüge«, sagte Tycho. »Ich habe Euch nie gehasst.«
Sie schmiegte für einen Augenblick den Kopf an seine Schulter. Dann gab sie einem Fackelträger ein Zeichen.
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