Nachtklinge: Roman (German Edition)
Das gilt ganz besonders für Marco.«
Giulietta ahnte, dass das nur die halbe Wahrheit war.
Inzwischen hatte sie also Görz erreicht, eine gut befestigte Stadt an den Ausläufern der Julischen Alpen. Der Ritt vom Hafen Monfalcone, den die deutschen Falckenberg und die Hiesigen etwas völlig Unaussprechbares nannten, hatte drei Stunden gedauert, und sie hatten ein rasches Tempo angeschlagen. Falckenberg, Görz und Alta Mofacon waren aus dem Besitz ihrer Mutter an Giulietta übergegangen.
»Lasst die Mädchen tanzen«, sagte sie zum Bürgermeister.
Die Hälfte der Mädchen war hübsch anzusehen, die meisten hatten große Brüste und rote Wangen. Ihr Tanz war etwas ungelenk, aber das machten sie durch überschäumende Begeisterung wett. Giulietta fand sich selbst abscheulich hochnäsig und beklatschte die Darbietung am Ende besonders ausgiebig.
Das wurde als Aufforderung verstanden, den Tanz zu wiederholen.
»Sehr liebenswürdig, Prinzessin«, schaltete sich Roderigo anschließend ein, der stillschweigend davon ausging, dass Giulietta keine weitere Darbietung wünschte. Womit er recht hatte. Ebenso wenig wünschte sie seine Begleitung nach Alta Mofacon. Davon ahnte er noch nichts.
»Graf, hier trennen sich unsere Wege.«
»Prinzessin, mein Befehl lautet …«
»Eure Befehle sind bedeutungslos. Wir befinden uns in meinem Hoheitsgebiet.«
Sie hatte recht, und er wusste das. Hier galten ihre Gesetze und nicht die der Serenissima.
»Graf Roderigo«, sagte sie besänftigend. »Seht Euch doch um. Ich bin hier aufgewachsen, das ist mein Volk. Nur ein halber Tagesritt durch meine Felder und ich habe Alta Mofacon erreicht. Was kann da schon passieren?«
Der Hauptmann der Dogana betrachtete finster ihre Sänfte und die drei Ochsenkarren mit den gewaltigen Rädern, die ihr Hab und Gut beförderten. Zwei Dutzend hiesiger Wachleute begleiteten den Tross, unter ihnen je ein Spion ihres Onkels und einer ihrer Tante. Wäre ihr Cousin Marco kein solcher Trottel gewesen, hätte er ebenfalls einen Spitzel herbeordert.
»Ich bitte darum, dass Ihr mir bei Eurer Ankunft einen Boten schickt.«
»Wollt Ihr so lange hier warten?«
»Wenn Ihr es gestattet.«
Sie unterdrückte ein Schmunzeln. Das ging einfacher als erwartet.
»Ich danke Euch«, erwiderte sie. »Der Bürgermeister wird gewiss alles tun, um Euren Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten.«
Der Bürgermeister nickte.
Graf Roderigo hatte seine liebe Mühe mit dieser neuen Giulietta, und das gefiel ihr gut. Außerdem gefiel es ihr hier in den Bergen, auf dem Weg zu dem Ort, wo sie sich am liebsten aufhielt. Natürlich wusste sie, woher diese plötzliche Zufriedenheit kam. Sie hatte sich endlich ausgeweint.
Was ursprünglich als schlauer Schachzug geplant war, hatte sich als echte Empfindung herausgestellt. Ihre Tränen wollten nicht mehr versiegen. Sie weinte um Leopold, um ihren Sohn und dessen ungewisse Zukunft, sie weinte ihrer unglücklichen Kindheit wegen, und sie weinte, wenn sie daran dachte, wie schlecht sie ihre Hofdame behandelt hatte, sie weinte um Tycho …
Sie weinte sich beinahe die Augen aus, und selbst ihre Milch schmeckte nach salzigen Tränen.
Nach Ansicht der Venezianer hatte sie in einer Art und Weise von ihrem toten Ehemann Abschied genommen, die sich eher für eine Barbarin schickte.
»Leo?«
»Er schläft.«
Eleanor war genau im richtigen Augenblick aufgetaucht.
»Ist die Amme bei ihm?«
»Ja, Prinzessin.«
»Und er …«
»Interessiert sich mehr für gedämpfte Früchte.« Grinsend blickte Gräfin Eleanor sich um, betrachtete die wehrhafte Burg und die steil ansteigenden Hügel. »Der Kleine ist stark wie ein Ochse.«
Giulietta lächelte.
* * *
»Du da«, sagte sie.
Der Angesprochene sah überrascht auf. Er war klein von Wuchs und verdreckt, normalerweise hätte ihn eine Adelige wie Giulietta nicht wahrgenommen. Das war wohl ein unschätzbarer Vorteil bei seiner Arbeit.
»Bring diesen Brief zu Graf Roderigo.«
Er nahm das Schreiben widerstrebend entgegen.
Sie hatte den halben Nachmittag damit verbracht, die drei unbekannten Wachposten zu beobachten. Zwei davon waren Spitzel ihres Onkels und Spitzel ihrer Tante. Nur welcher war welcher? Offenbar hatte sie den richtigen ausgewählt.
»Ich bin leider nicht gut zu Pferde.«
»Du wirst auch nicht reiten, sondern zu Fuß gehen. Auf dem Rückweg von Görz kannst dich von einem Ochsenkarren mitnehmen lassen.«
Sie hatte den Brief nachlässig versiegelt, sodass er
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