Nachtklinge: Roman (German Edition)
leicht gelesen werden konnte.
Der Mann verneigte sich gehorsam.
Sie musste sich nur noch um den Spitzel ihrer Tante kümmern.
»Nimm diese beiden Männer mit dir und richte dort drüben einen Wachposten ein«, befahl Giulietta ihrem Wachtmeister. Sie deutete auf den zerklüfteten Berg, dessen rechte Flanke hoch aufragte und kurz vor der Spitze jäh abbrach wie ein gesplitterter Zahn. Zwischen Schotter und Geröll wand sich ein Ziegenpfad hinauf. Der Marsch dorthin dauerte mindestens eine halbe Stunde, und in einer halben Stunde brach der Abend herein.
»Die Männer sollen Holz für ein Signalfeuer sammeln. Wenn sich etwas im Tal bewegt, muss das Feuer angezündet werden. Du kehrst wieder zu uns zurück, die beiden bleiben als Wachposten dort.«
Endlich war sie ihr eigener Herr.
Damit war Alexas Spion erst einmal beschäftigt. Falls sie sich getäuscht haben sollte, war das auch kein Problem, denn möglicherweise war der Wachtmeister selbst der Spion. »Vielleicht sollte ich hierbleiben«, schlug er vor.
Giulietta schüttelte den Kopf.
Sie beobachtete, wie die drei langsam auf den Schotterpfad zuschritten, und wandte sich dann um. Alonzos Spion würde jeden Augenblick in dem Orangenhain etwas weiter unten verschwinden, wo er sie ebenso wenig sehen konnte wie sie ihn.
»Schiebt die Karren in den Hof.«
Der Mann zerrte am Geschirr, bis der widerspenstige Ochse schnaufend den Wagen unter dem Torbogen auf den leeren Hof zog. Im Herbst war der Hof ein einziges Schlammloch, aber nun war Frühling, und die Sonne hatte die feuchte Erde getrocknet. Der Leitochse hob den Schwanz und ließ einen mächtigen Fladen auf den Boden fallen. Giulietta grinste. Es war ihr egal, dass das Tier um ein Haar ihr Kleid beschmutzt hätte.
Hier war ihr Zuhause.
Hier war ihre Mutter am glücklichsten gewesen, allein auf ihrem Anwesen. »Ich nehme das Eckzimmer im obersten Stock.«
»Prinzessin …« Ein Blick auf ihr eigensinniges Gesicht reichte aus, und der Haushofmeister gab gehorsam Anweisungen, das Mobiliar aus dem vorbereiteten Zimmer in das neue zu schaffen.
»Du schläfst nebenan«, sagte sie zu Eleanor. »In meinem Zimmer.«
Eleanor wirkte verblüfft.
»Und Leo?«
»Die Amme bekommt das andere Zimmer neben mir.«
Damit wandte sich Giulietta der weiteren Organisation zu. Innerhalb von zehn Minuten war ihr Hab und Gut abgeladen. Sie lehnte ein formelles Abendessen ab und verlangte frisches Brot, Käse und Früchte. »Aber zuerst«, befahl sie, »sollen alle in die Eingangshalle kommen. Ich möchte sie begrüßen.«
* * *
Mühelos durchschnitt Tychos Schwert die zerschlissene Leinwand des dritten Ochsenkarrens. Der Hof lag im Dunkeln und niemand war zu sehen, genau wie Giulietta es versprochen hatte.
Der Landsitz hatte mächtige Mauern aus einem gelblichen Stein, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Das Dach war mit roten Ziegeln gedeckt und die Fenster mit Sandstein eingefasst. Rasch hatte Tycho alle Einzelheiten des Hauses erfasst, das Giulietta so sehr liebte. Es war nicht so prächtig wie erwartet, wirkte jedoch unverwüstlich. Es wirkte, als stehe es schon fünfhundert Jahre.
In einigen Fenstern schimmerte Licht, doch der Sternenhimmel wölbte sich hier höher und klarer als über Venedig. In diesem bescheidenen Haus, kaum besser als ein Bauernhof, fühlte sich Giulietta also zu Hause. In der Ferne blökte ein Schaf, Schwalben umschwirrten den First und im nahe gelegenen Wirtshaus kratzte jemand auf der Fidel. Es roch nach Rauch, Kräutern und Dung.
Mein Haus ist deines. Du darfst überall eintreten,
hatte sie geflüstert, als sie an seinem Karren vorbei ins Haus ging, um dort die Bediensteten zu begrüßen, die sich elf Jahre lang um ihr Anwesen gekümmert hatten. In den Stimmen, die sie willkommen hießen, mischte sich Respekt mit der Zuneigung, die man Giulietta schon als Kind entgegengebracht hatte.
Tycho reichte Rosalie die Hand.
Erst als sie aus dem Karren kletterte, bemerkte er ihre zerfetzte Kleidung, die wahrscheinlich aus einer wohltätigen Bruderschaft oder von einer Leiche stammte. Der Spender hatte jedenfalls keinen nennenswerten Verlust erlitten, denn in den Falten krabbelten Läuse. Das Gewand war einst prächtig gewesen; es bestand aus kostbarer, tiefschwarz gefärbter Seide.
»Wo hast du das her?«
»Gestohlen.«
Er fragte lieber nicht, wo.
Rosalie sah sich verdrossen auf dem kleinen Hof um und rümpfte die Nase, als sei der Mistgeruch schlimmer als der Gestank der venezianischen
Weitere Kostenlose Bücher