Nachtkrieger
Hälfte der Leute stellte die gleiche Frage, die am Morgen bereits der Wache auf der Zunge gelegen hatte und die Ivo auch Alaida würde beantworten müssen. Die andere Hälfte – selbstredend überwiegend Männer – zollte Ivo eine nahezu offenkundige Bewunderung, die zweifellos ihren Ursprung in Wats unbedachter Bemerkung hatte. Doch ein finsterer Blick genügte, um alle zur Ordnung zu rufen.
»Ich sehe sie nirgends«, sagte Brand. Er nahm den Raben von seiner Schulter und setzte ihn vorsichtig auf eine Stange. Auf dem Weg war Ivo und Brand aufgefallen, dass der Rabe Schmerzen an einem seiner Flügel zu haben schien. Sie vermuteten, dass eine Eule oder ein Habicht ihn angegriffen hatte. »Möglicherweise hast du sie mit deinem Liebesspiel doch noch ins Kloster getrieben.«
Ivo ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. »Sie wird wohl oben sein.«
»Kein gutes Zeichen«, brummte Brand.
»Was?«
»Du bist dabei, in Bezug auf Frauen den Humor zu verlieren. Zumindest, was deine Gemahlin betrifft.«
»Hm?« Es dauerte einen Augenblick, bis Ivo die Worte seines Freundes erfasst hatte. »Ja, ja. Liebesspiel. Kloster. Hahaha! Sehr witzig.«
Brand lachte leise in sich hinein und klopfte Ivo auf die Schulter, so fest, dass dieser beinahe mit den Zähnen knirschte. »Nun geh schon! Kümmere dich um deine Lady und halt ihr den Vortrag, den du dir auf dem Weg hierher die ganze Zeit zurechtgelegt hast. Ich werde es mir mit einem Krug Bier behaglich machen und mir den Sermon durchlesen, den dein neuer Steward uns hinterlassen hat.« Brand tätschelte den Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing und Aris neueste Nachricht enthielt. »Offenbar will er beweisen, dass er doch mit Worten umgehen kann.«
»Das meiste davon habe ich ohnehin bereits gehört. Du kannst mir später berichten, ob es noch etwas Wichtiges gibt«, sagte Ivo und ging zögernd in Richtung Treppe, während Brand sich einen Krug Bier kommen ließ.
Brand hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Weg nach Alnwick hatte Ivo sich alle möglichen Ausreden zurechtgelegt, aber keine davon schien überzeugend genug, um seine Abwesenheit zu erklären, geschweige denn zu rechtfertigen, dass er jeden Morgen derart früh würde ausreiten müssen. Er fand einfach nicht die richtigen Worte, ebenso wenig wie er es in der vergangenen Nacht fertiggebracht hatte, Alaida zu sagen, dass er bei Tagesanbruch fort sein würde. Eigentlich hätte er niemals nach Alnwick kommen dürfen. Er hätte Alaida niemals heiraten dürfen. Wie hatte er nur glauben können, ein solch wahnsinniges Unternehmen ließe sich in die Tat umsetzen. Doch nun war er hier, und er war nicht bereit, seine Pläne zu ändern, jedenfalls nicht, bevor er durch die Götter oder Cwens Fluch dazu gezwungen würde. Ihm musste etwas einfallen, das er Alaida erzählen konnte.
Als er ihr Zimmer betrat, fand er Alaida allein vor. Sie saß am Tisch, vor sich ein dickes Buch und eine Rolle Pergament. Mit geschürzten Lippen schien sie ganz darin vertieft, fuhr mit dem Finger eine Zeile nach und schrieb mit einem Griffel etwas auf eine Wachstafel. Einen Moment lang beobachtete Ivo schweigend diese angenehm friedliche Szene, bis Alaida ihn bemerkte und aufsah. Sie legte die Stirn in Falten.
»My Lord.«
Nicht unbedingt die freudige Begrüßung, die er sich erhofft hatte, und dennoch weniger feindselig, als er befürchtet hatte. Er hängte seinen Umhang an einen Haken und schloss die Tür, um ungestört mit ihr zu sein. »Ist das der Ehevertrag?«
»Ja, My Lord. Und die Bücher.«
»Ich hatte gehofft, dass du dir heute Zeit dafür nehmen würdest.« Er ging zu ihr hinüber und warf einen Blick auf die Wachstafel. Offenbar war Alaida dabei, ihre Einnahmen zusammenzurechnen. »Und, stellt dich das zufrieden?«
Sie nickte. »Ja. Ich habe Geoffrey aufgetragen, den Vertrag bei der Abendmahlzeit zu verlesen, damit Oswald und die anderen ihn als Zeugen bestätigen können.«
»Ich werde ihn ebenfalls vor Zeugen bestätigen«, sagte er und gab ihr die Wachstafel zurück. »In Zukunft solltest du jeden Vertrag lesen, bevor du ihn unterzeichnest, Alaida. Nun, da du sowohl meine Lehnsfrau als auch meine Ehefrau bist, bist du mir Sorgfalt bei allem, was du tust, schuldig.«
»Ich war immer sorgfältig, bis heute, My Lord.« Sie senkte den Kopf, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Ich habe mich von meinem Zorn verleiten lassen.«
»Schließlich bist du ja zur Vernunft gekommen, und nur das zählt letzten Endes.« Was
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