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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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genau es war, bemerkte ich, dass sich in dem Moment etwas veränderte. Es fühlte sich gut an.
    »Los, nehmt die Paletten. Wir hauen ab«, sagte Baader schließlich. Nachdem er mich umgeschubst hatte, verschwand er, und die anderen folgten ihm mit dem Joghurt. Bis zum Abend bekam ich sie nicht mehr zu sehen.
     
    Das Heim war ein zweistöckiges Gebäude aus roten Backsteinen, eine ehemalige Wäscherei am Rande des Dorfes, in dem sich sechs Wohnungen befanden, auf die sich die Wohngruppen aufteilten. Damit die Kinder der einzelnen Gruppen untereinander in Kontakt kamen, wurde gemeinsam Abendbrot gegessen.
    Der Geruch von frisch geschnittenem Brot hing in der Luft, und das fruchtige Aroma des Hagebuttentees dampfte aus den Blechkannen. Wir saßen an den Tischen und warteten darauf, anfangen zu dürfen. Es herrschte die übliche Unruhe aus Gebrabbel, klapperndem Geschirr und Besteck, als Werner, der Heimleiter, in den Raum kam.
    »Schnauze!«, brüllte er. Augenblicklich verstummten wir. Ich hatte noch nie einen der Erzieher laut werden hören. Besonders Werner hatte ich bislang als den väterlichen Typ kennengelernt, der auch den letzten Dreck auszudiskutieren bemüht war.
    Drei andere Mitarbeiter, unter ihnen Merle, die einzige Frau unter den Erziehern, stellten sich neben Werner.
    »Heute sind zwei Sachen passiert, die wir so nicht durchgehen lassen können. Es gibt so lange kein Abendbrot, bis wir das Ganze geklärt haben«, sagte Werner. »Herr Feuerbach hat angerufen und uns erzählt, was beim Supermarkt passiert ist.«
    Baader schielte vom Nachbartisch zu mir herüber und deutete |38| ein Grinsen an; auch Jens und die anderen konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Gerade in dem Moment fummelte ich an meinem Brotmesser herum, und als ich ihre Blicke bemerkte, umfasste ich es fester und hielt es aufrecht in der geballten Faust. Sie sahen beiseite, und ich rückte mir den Hut zurecht.
    »Ich weiß nicht, wessen hirnrissige Idee das gewesen ist, aber ihr solltet wissen, dass ihr mit solchen Sachen dem ganzen Heim schadet«, sagte Werner. »Herr Feuerbach ist der Pächter des Supermarktes. Heute Morgen soll jemand einige Paletten Joghurt und den Stern von seinem Mercedes geklaut haben.« Baader warf mir einen giftigen Blick zu. »Und als ob das nicht reicht, fehlen heute hundert Mark in der Kasse im Büro.« Werner sah in die Runde und machte eine Pause, in der er hörbar ein- und ausatmete. »Ihr alle kennt inzwischen Merle«, sagte er dann, und sie trat einen Schritt vor.
    Merle war wenige Tage, bevor ich ins Heim gekommen bin, eingestellt worden und hatte nicht nur damit zu kämpfen, dass sie die einzige Frau, sondern außerdem erst zwanzig Jahre alt war. Mit Ausnahme der kleinen Jungs nahm sie kaum jemand ernst, und so geriet sie ständig in Streitereien und Machtkämpfe, mit Bewohnern wie mit Kollegen.
    »Merle hat mit Herrn Feuerbach gesprochen und wird die Sache klären«, sagte Werner.
    »Das mit dem Mercedes-Stern besprechen wir später in Ruhe«, übernahm Merle, »aber die hundert Mark werden jetzt sofort zurückgegeben. Am einfachsten wäre es, wenn die Verantwortlichen sich melden. Wenn nicht, werden wir die Zimmer durchsuchen, und wenn das nichts bringt, werden alle bestraft.«
    Allmählich wurden die ersten Kinder unruhig. Da sich niemand meldete, gingen die Erzieher nach und nach mit den einzelnen Gruppen in ihre Wohnbereiche, um die Zimmer zu filzen. Aber auch nach knapp einer Stunde hatten sie außer Taschenmessern, Pornoheften und Zigaretten nichts gefunden. |39| Schließlich war meine Gruppe an der Reihe. Baader und Jens teilten sich das Zimmer, das meinem gegenüberlag. Werner kramte mit gerümpfter Nase in meinem Turnbeutel, als würde er in Schweinsinnereien herumwühlen, als ich Merles Stimme von gegenüber hörte.
    »Wie kommt das in dein Kopfkissen, Christian?«
    Über den Flur sahen Werner und ich in Baaders Zimmer, und da stand Merle, hielt in der einen Hand einen Hundertmarkschein, in der anderen den Mercedes-Stern. Ihre Blicke bohrten sich in Baaders moppeliges Gesicht, aber der schnappte nach Luft und bekam kein Wort zustande, sondern klappte nur seinen Mund auf und zu.
    »Oh, Mensch, Christian«, sagte Werner halb wütend, halb resignierend, »das kann doch nicht wahr sein.«
    Damit drückte er mir den Turnbeutel in die Hand und trottete aus meinem Zimmer. Baader bekam das Maul nicht zu, aber auch immer noch kein Wort heraus, gaffte Merle an, als habe sie ein Kaninchen aus seinem

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