Nachtleben
Augenwinkel betrachtet, sah er aus wie eine Galionsfigur, an seine Theke montiert. Ihn in solchen Momenten anzusprechen war sinnlos, er reagierte auf nichts, aber da die Kundschaft fast ausschließlich aus Stammgästen bestand, war das schon in Ordnung. Man klopfte ihm auf die Schulter, zapfte sich einfach selbst ein Bier und drückte ihm anschließend einen Korn in die Hand.
»Sprichst du Englisch?«, fragte Schmidt, als ich an ihm vorbei zur Kellertreppe ging.
»Nicht so richtig«, antwortete ich, aber trotzdem rief Schmidt mir hinterher: »Sei mal nett zu dem. Der war ganz freundlich.«
Als ich den Raum betrat, prügelte Pete ächzend auf einen blauen Sandsack ein, dass es knallte. Er war einen halben Kopf größer als ich, mit einem athletischen Körper, und seine Haut glänzte wie mit Klarlack überzogen. Schließlich bemerkte er mich, umklammerte den Sandsack und sah mich abwartend an. Mein Blick fand kaum Halt in seinem Gesicht, so eben war es. Erst als er schüchtern lächelte, blieb mein Gaffen an einem seiner Eckzähne hängen, der ein wenig schief stand.
|46| »Hi«, sagte er. Ich nickte knapp. »You often here?«
»Hmhm«, brummte ich zustimmend.
»Wanna try who can push more weight?«, fragte er, unverändert lächelnd.
»Okay«, antwortete ich.
Pete wartete auf die Entscheidung über seinen Asylantrag und durfte weder arbeiten noch das Stadtgebiet verlassen. Bald war er ständig im Keller, und der alte Schmidt, der erstaunlich gut Englisch sprach, hatte einen Neuen, dem er seine Geschichten erzählen konnte. Nach wenigen Wochen war Pete schon fester Bestandteil der Kneipe. Er half, den Laden auf Vordermann zu bringen, schleppte Kisten, mistete die Lagerräume aus, und schließlich stand er auch gelegentlich hinter der Theke. Er lernte Skatspielen und Knobeln. Immer häufiger blieb die Jukebox ausgeschaltet, stattdessen düdelte afrikanische Musik aus der Anlage. Oft tänzelte Schmidt, mit den Hüften wackelnd, durch den Laden und schwang dabei die Schürze wie eine Flamencotänzerin ihren Rock.
Schmidt richtete Pete einen der fensterlosen Abstellräume her, sodass er ein Zimmer hatte, in das er sich zurückziehen konnte. Zuvor hatten Bierkästen in dem Raum gelagert, deren Geruch noch immer in der Luft hing. Obwohl die Einrichtung nur aus einem klapprigen Bett, einem Spiegel und einem Nachttischchen vom Sperrmüll bestand, präsentierte Pete mir sein Zimmer, als sei es ein Loft im angesagtesten Teil der Stadt.
»My kingdom.«
Damit ließ er sich aufs Bett fallen und zog dann, mit beiden Händen daran ruckelnd, die Schublade des Nachttischchens auf, als würde er eine Schwingtür zur Dachterrasse mit Pool öffnen. Die Schublade war leer. Pete lächelte, und ich starrte auf seinen Eckzahn. Schließlich deutete er auf eines der Fotos, die am Rahmen des Spiegels klebten. Darauf zu sehen war ein Schwarzer, ähnlich schmal wie Pete selbst, der auf einer rotsandigen |47| Schotterstraße posierte, die in karger Landschaft am Horizont verschwand.
»My younger brother«, sagte Pete. »Got lost on the way here from Nigeria. We all got lost.«
Sein Blick sank in das Foto. Für einen Moment verschwand das Lächeln, das ich für gewöhnlich in seinem Gesicht entdeckte. Ich hätte ihm gerne von meiner Zeit im Kinderheim erzählt, vom Stall, in den ich mich oft zurückgezogen hatte, aber ich bekam die Worte nicht zusammen. Trotz all der Fragen, die ich ihm stellen wollte, brachte ich keinen Ton heraus. Nach einer Weile sah Pete mich an, als müsse nicht ich ihn, sondern er mich aufmuntern.
»I’ll find him«, sagte er. »One day I’ll find him.«
Mein Blick driftete ins Leere, irgendwo hinter den Spiegel.
Wir kamen gut miteinander aus, obwohl wir uns kaum verständigen konnten. Vielleicht auch gerade deswegen. Wir klärten vieles mit Händen und Füßen, aber meistens schwiegen wir und gingen joggen. Flavio war irgendwann genervt, konnte sich aber auch nicht aufraffen mitzulaufen. Zwar hatten wir regelmäßig Gewichte miteinander gedrückt, aber gelaufen war ich immer alleine. Als ich schließlich mehrmals die Woche mit Pete joggte, wurde Flavio zickig. Wenn wir zu dritt im Keller pumpten, würdigte er Pete kaum eines Blickes, und wenn der ihn auf Englisch ansprach, zuckte Flavio nur mit den Schultern und wandte sich ab.
Als ich den alten Schmidt einmal fragte, weshalb Pete aus Nigeria abgehauen war, schüttelte er nur schnaufend den Kopf. In der Umkleidekabine hatte ich Petes vernarbten
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