Nachtleben
dass Petes Asylantrag abgelehnt worden war, und wir uns mit ein paar Leuten zum Abschiedssaufen bei Schmidt in der Kneipe trafen, kam Flavio wieder mit. Zur Begrüßung warf Schmidt ihm einen strafenden Blick zu wie einem Köter, der die Wohnung verwüstet hat. Was ein Kopftätscheln für den Hund gewesen wäre, war für Flavio der Korn, den Schmidt ihm einschenkte.
Es war ein leises Trinkgelage. Die Jukebox war ausgeschaltet, und man konnte das Nippen am Bier, das Knistern des Schaums und das Surren der Zapfanlage hören. Was Pete in Nigeria erwartete, wusste ich nicht, aber seine Schönheit und seine Zuversicht waren von einem auf den anderen Tag verschwunden. Er hing an der Theke mit einem Gesicht ohne Zukunft, wie die anderen heruntergekommenen Säufer. Niemand |53| sprach. Irgendwann nach einer Runde Korn erhob sich Pete und sagte: »Vielen Dank, Jurgen.« Es war das erste Mal, dass ich es erlebte, dass jemand den alten Schmidt mit dem Vornamen ansprach. »Entschuldig’ mich kurs«, sagte Pete. »Noch mal boxen. Endspurt.«
Ihm stiegen die Tränen in die Augen, als er Richtung Keller verschwand.
Eine Dreiviertelstunde später, in der wir Schmidt unter anderem ausgeredet hatten, Pete bei sich zu verstecken, wunderten wir uns, was der unten so lange trieb. Weil niemand Lust hatte, ihn beim Heulen zu überraschen, überwand ich mich, öffnete ein Bier für ihn und stapfte die Treppen in den Keller runter. Vielleicht für ein Schulterklopfen von Heimkind zu Heimkind oder irgendwie auch von Flüchtling zu Flüchtling.
Ich stieß die Tür auf und erstarrte.
Pete hatte sich mit einem der Springseile am Haken des blauen Sandsacks aufgeknüpft. Sein Körper hing in der Schlinge wie ein ausrangierter Mantel, und im ersten Moment konnte ich den Zug des Stricks auch in meinem Rückgrat spüren.
Weil ich nicht wollte, dass der alte Schmidt Pete so sah, rief ich Flavio unter einem Vorwand in den Keller, damit er mir dabei half, ihn abzunehmen. Mit offenstehendem Mund gaffte er Pete an, bevor er sein Entsetzen schluckte und die Tür hinter sich zuzog.
»Schöne Scheiße«, murmelte er dann. »Was ’n jetzt?«
»Lass ihn mal runternehmen.«
Flavio kratzte sich am Arm und legte die Stirn in Falten. Nach einem Moment der Unsicherheit fasste er Pete bei der Hüfte und hob ihn an. Ich balancierte daneben auf einem der Ringhocker und versuchte, das Springseil vom Haken zu friemeln, aber sobald Flavio Pete nach oben drückte, kippte dessen Kopf samt Oberkörper zu irgendeiner Seite weg, und der Zug am Strick veränderte sich nur unmerklich. Etwas in mir sträubte sich dagegen, Petes toten Körper zu berühren, |54| um das Seil direkt an seinem Hals zu lösen. Schließlich hörten wir Musik runterdröhnen, gefolgt von den Schritten und dem Johlen der anderen, die die gedrückte Stimmung nun mit aller Macht anzugehen versuchten. Wir wurden hektisch. Der Schweiß stand uns sowieso schon auf der Stirn. Zum einen wollte ich nicht, dass Schmidt uns dabei sah, wie wir an Pete herumfuhrwerkten, genauso wenig wollte ich tatenlos neben der baumelnden Leiche stehen. Deshalb überwand ich mich. Ich fasste Petes Kopf bei den Haaren, lockerte den Strick am Hals und zog ihn übers Kinn, vergaß dann aber, seinen Oberkörper zu stützen, so dass er ruckartig nach vorne wegklappte. Ich gab einen erschrockenen Laut von mir, worauf Flavio Petes Hüfte losließ und der, Stirn voran, auf den Boden schlug.
Wir erfroren mit hochgezogenen Schultern und schmerzverzerrten Gesichtern. In dem Moment sprang die Tür auf, und der alte Schmidt tänzelte mit einem Papphütchen auf dem Kopf in den Raum, die anderen kamen als besoffene Polonaise hinterher.
Schmidt fiel alles aus dem Gesicht, als er Pete auf dem Boden liegen sah. Die anderen schoben ihn ein paar Schritte in den Raum, bevor sie ebenfalls stehen blieben. Durch den Treppenaufgang orgelte die Musik in den Keller. Schmidt sank auf einer der Hantelbanken zusammen und gab Geräusche von sich, als habe man ihn mit eiskaltem Wasser übergossen.
In der Umkleide fanden wir einen Zettel, auf dem Pete darum bat, im Trainingsanzug, den er von Schmidt bekommen hatte, beerdigt zu werden.
Am nächsten Tag, einem der letzten Spätsommertage, wachte ich auf und wusste nichts mit mir anzufangen. Schließlich ging ich joggen. Es war die Strecke, die ich mit Pete oft gelaufen war, aber dann zog es mich in eine andere Richtung. Nach und nach wurde die Gegend ländlicher, und als ich mich irgendwann umsah,
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