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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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war die Stadt verschwunden. Ich lief weiter. Vorbei an Kuhweiden, Feldern und Bauernhöfen, bis meine |55| Lunge brannte, die Waden krampften und mein T-Shirt nass vom Schweiß war. Als ich glaubte, am Ende meiner Kräfte zu sein, zog ich das Tempo an. Tatsächlich konnte ich noch neue Energien freisetzen, und die Kilometer, die ich durchhielt, spürte ich ein unglaubliches Glücksgefühl. Dass ich kein Ziel vor Augen hatte, spielte keine Rolle. Das Laufen an sich genügte. Aber nach einer Weile wurde der Widerstand in meinem Körper stärker, als würde sich das Blut in meinen Adern in flüssiges Blei verwandeln. Ich wurde langsamer, sosehr ich auch dagegen ankämpfte.
    Schließlich warf ich mich in die warmen Gräser am Straßenrand unter einen Apfelbaum und kam zu Atem. Obwohl es ein beliebiger Punkt auf dem Weg war, wusste ich, dass es das Ende war. Weiter ging es nicht. Und es war beruhigend zu spüren, dass es einen solchen Punkt gab.
    Als ich wieder in meiner Wohnung angekommen war, machte ich mir ein Bier auf und rief Flavio an.
    »Na?«, fragte ich.
    »Was’s los?«, fragte er kauend zurück.
    »Nur so.«
    »Wie?«
    »Alles okay bei dir?«
    Stille. Dann hörte ich Flavio schmatzend etwas abbeißen.
    »Was?«, fragte er ungläubig.
    »Wollte nur mal hören, ob bei dir alles okay ist.«
    Wieder Stille. Kein Kauen.
    »Flavio?«
    »Bist du schwul, Alter?«
    Ich musste grinsen.

|56| April 1999
    Musik wummerte aus dem Club, und darüber flackerte eine Mischung aus Gelächter, klirrenden Gläsern oder Flaschen, Satzfetzen und vorbeirauschenden Autos. Eine Parfumwolke folgte auf die andere, und ich musste daran denken, wie Flavio bei einer Vorbesprechung mit der Security-Agentur gesagt hatte, dass wir nicht nur Ohrenstöpsel für Konzerte, sondern auch Nasenklemmen für Teenager-Discos bekommen sollten.
    Mit verschränkten Armen lehnte ich im Eingangsbereich zum Club, und die Gäste streckten mir ihre gestempelten Handgelenke entgegen, während sie an mir vorbei in den Laden strömten. Wenn sie mich nicht anlächelten, guckten sie abwartend, nickten mir knapp zu oder, wenn sie sich für abgebrüht hielten, ignorierten mich beim Arm-Rausstrecken einfach. Alles, was ich sah, war eine einzige vielköpfige Raupe, die sich unersättlich durchs Wochenende fraß, ohne den Willen, sich zu verpuppen, um ihrem Raupendasein zu entkommen, sondern immer nur dem Hunger nach mehr folgend. Am Ende einer Schicht reihte ich mich für gewöhnlich ein.
    »Hallo!«
    Jemand zupfte an meinem Ärmel. Als ich mich umdrehte, stand eine junge Frau neben mir, der das Top am Körper klebte wie eine zweite Haut.
    »Hast du meine Freundin gesehen? Die Julia?«, fragte sie. Wahrscheinlich hatten wir irgendwann ein paar Sätze miteinander gewechselt, und jetzt glaubte sie, wir wären Bekannte, in der Hoffnung, demnächst umsonst reinzukommen. »Die |57| ist so groß wie ich, hat lange blonde Haare, Pferdeschwanz, trägt so ’n dünnes Top.« Sie machte eine Pause, überlegte, tippte sich mit Zeigefinger gegen die Oberlippe und tat so, als würde sie sich dabei nicht niedlich finden. »Bauchfrei, enge Jeans mit Glitzergürtel. Hat heute so ’n bisschen Lippgloss drauf, wenig Lidschatten.«
    Die Beschreibung passte auf ein Drittel der anwesenden Frauen, sie selbst eingeschlossen, und so sagte ich, was ich in solchen Situationen immer sagte, um sie loszuwerden: »Hast du schon auf der Toilette nachgesehen?«
    »Super Idee! Bist du heute bis zum Ende hier?«
    Ich nickte.
    »Dann bis dann.«
    Damit verschwand sie in der Menge. Ein Kollege und ich warfen uns feixende Blicke zu.
    Ich betrachtete die vorbeiflanierenden Menschen, als ich glaubte, ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben.
    »Merle?«, rief ich.
    Als sich der anvisierte Kopf in meine Richtung drehte, geriet ich in eine Schockstarre. Merle erkannte mich nicht, sondern sah sich weiter suchend um, als könne sie nicht glauben, dass ich, der grinsende Glatzkopf, ihren Namen gerufen hatte. Diesen Moment hätte ich nutzen können, um abzutauchen, wissend, dass Merle noch lebte, ohne mich lästigen Und-washast-du-die-ganze-Zeit-so-gemacht-Gesprächen auszusetzen. Aber irgendetwas hielt mich oben.
    »Richard«, hörte ich mich rufen, »Rick.« Merle warf sich in eine überraschte Pose, wie Pantomimen es machen, hielt sich die Hand vor den Mund und kam auf mich zu. Einige Schritte entfernt blieb sie stehen.
    »Wie siehst du denn aus?«, fragte sie schließlich.
    »Na, wie denn?«, lachte

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