Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
ich.
    »Gut. Ganz gut«, sagte sie und blickte schmunzelnd an mir herunter. »Cowboystiefel finde ich ein bisschen grenzwertig.«
    |58| Leute drängelten sich an uns vorbei und schubsten Merle dichter an mich heran.
    »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
    »Schon okay.«
    Merle strich sich die lockigen Haare aus dem Gesicht. Ich bemerkte die kleinen Falten an ihren Augen, die sie noch wie früher mit schwarzem Eyeliner dick unterstrich, als müsse sie eine Grenzlinie ziehen.
    »Du hast dich verändert«, sagte sie.
    »Geht so. Älter geworden halt.«
    Während ich meinen Blick umherwandern ließ, rieb Merle sich den Nacken. Nach einigen Sekunden des Schweigens pickte ich mir wahllos einen vorbeiwackelnden Gast aus der Menge und tastete ihn ab, um zu demonstrieren, dass ich bei der Arbeit war.
    »Was denn?«, fragte der.
    »Okay«, sagte ich und schob ihn in den Laden wie in einen Gefangenentransporter.
    »Du hast mich doch vorhin schon durchsucht.«
    »Keine Diskussionen hier«, sagte mein Kollege, und der Kerl machte: »Tss«, worauf wir ihm strenge Blicke zuwarfen. Er verschwand.
    »Wie lange arbeitest du heute?«, fragte Merle.
    »Nur bis drei.«
    Jemand boxte Merle im Vorbeigehen in die Rippen, worauf sie das Gesicht verzog und einen weiteren Schritt auf mich zu machte, sodass sich unsere Schuhspitzen fast berührten. Wir sahen uns wortlos an. Merle trug noch das gleiche Parfum wie früher, das beim Einatmen süßlich in der Nase kitzelte und mich beim Ausatmen benebelt zurückließ.
    »Wollen wir dann was trinken gehen? Vielleicht irgendwo, wo es ein bisschen ruhiger ist?«, fragte sie.
    »Holst du mich ab?«
    »Ja«, sagte sie und kratzte mit dem Fingernagel über den Lederriemen ihrer Handtasche. »Rick«, sagte sie schließlich, |59| stockte aber, und die Ahnung eines Satzes hing in der Luft. Ich erwartete eine Erklärung oder Entschuldigung, aber sie beendete den Satz nicht.
    »Bis später«, sagte sie schließlich, drehte sich um und ging.
     
    Etwa ein Jahr bevor ich das Heim verlassen und meine Lehre in der Stadt angefangen hatte, war Merle wegen einer Affäre mit Phillip, einem minderjährigen Bewohner, gefeuert worden. Alles war innerhalb weniger Tage geschehen. Das Gerücht war aufgekommen, sie war beurlaubt worden, und eine Woche später hatte Werner bekanntgegeben, dass sie nicht zurückkommen würde. Merle war verschwunden, ohne sich von mir zu verabschieden oder sich noch einmal zu melden, obwohl sie nach der Sache mit Baader zu meiner engsten Bezugsperson geworden war. Seitdem hatten wir uns nicht wiedergesehen und nichts voneinander gehört.
    »Wo wollen wir hin?«, fragte Merle, als wir uns kurz nach drei gegenüberstanden.
    »Mir egal.«
    »Wohnst du weit weg von hier?«
    »Gleich um die Ecke«, antwortete ich. »Keine zehn Minuten zu Fuß.«
    »Dann lass uns doch einen Wein von der Tankstelle holen und zu dir gehen. Ich war gerade mit einer Freundin unterwegs und habe für heute genug von Kneipen und Lärm und Menschen, ja?«
    Obwohl es erst April war, fühlte es sich an, als spazierten wir durch eine laue Sommernacht. Trotz all der Fragen, die ich im Kopf hatte, blieb ich stumm, und auch Merle schien nicht den Anfang machen zu wollen. Nach einer Weile klackerten unsere Schritte im gleichen Takt auf der Straße. Wir sahen uns an. Merle zwinkerte mir zu und hüpfte anschließend taktgenau mit dem Hacken in die Stille zwischen den Schritten. Zwei Schritte später machte ich es ihr nach. Für einige Meter setzten wir unseren eigenen Rhythmus auf das |60| Kopfsteinpflaster, und es war ein angenehmes Schweigen, das nicht mit Gefasel gefüllt werden musste.
    An einer Tankstelle kaufte ich eine Flasche Rotwein, Merle gleich noch eine zweite und wenig später waren wir in meiner Ein-Zimmer-Wohnung angekommen. Seit Monaten hatte ich es aufgeschoben, eine Lampe anzubauen, sodass das Zimmer nur von einer schwachen Funzel neben dem Bett, eigentlich einer Schreibtischlampe, beleuchtet wurde. Während ich in einer Schublade nach dem Korkenzieher kramte, besah sich Merle im schummrigen Licht eine der Wände, an die ich Fotos, Postkarten, Zeitungsausschnitte und allerlei anderen Kram gehängt hatte.
    »So zugekleisterte Wände haben sonst nur psychotische Serienkiller in Hollywood-Filmen«, sagte sie. »Musst du den Menschen auf den Bildern nur noch mit einem Brotmesser die Augen abkratzen oder schwärzen.«
    Weil mir nichts Besseres einfiel, erstarrte ich mit dem Korkenzieher in der geballten Faust, fixierte

Weitere Kostenlose Bücher