Nachtleben
Merle mit aufgerissenen Augen und zitternden Lippen, als würde ich ihr im nächsten Moment die Haut vom Rücken ziehen, um mir einen Minirock daraus zu schneidern. Merle kicherte wie früher, wenn ich sie mit irgendwelchen Albernheiten zum Lachen gebracht hatte. Vor einem gerahmten Schwarzweißfoto blieb sie stehen.
»Wer ist das?«
»Meine Oma«, hörte ich mich sagen, und Merle ging ein wenig dichter an das Bild heran.
»Du kennst deine Großeltern?«, fragte sie. »Wie hast du die denn gefunden?«
»Lange Geschichte.«
»Und was ist mit deiner Mutter?«
»Tot«, sagte ich. Merle nahm das Foto von der Wand und betrachtete es. Ich entkorkte den Wein.
»Das tut mir leid.«
»Schon vor Jahren.«
|61| Merle hielt das Bild schräg gegens Licht. »Ist das eine Autogrammkarte?«
»Ja. Meine Oma war früher Schauspielerin. Die Karte fand ich so toll, dass sie sie mir geschenkt hat.«
»Wie alt ist deine Oma denn?«
»Alt«, sagte ich. »Hat unter den Nazis in Babelsberg Heimatfilme gedreht und später in Berlin in ein paar Brecht-Stücken mitgespielt.« Ich holte zwei Gläser aus dem Schrank und setzte mich an den Küchentisch.
Merle lachte. »Du kennst Brecht?«
»Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt«, zitierte ich mit erhobenem Zeigefinger und schenkte uns Wein ein. Noch immer das Foto in der Hand, setzte sich Merle zu mir an den Tisch, schlug die Beine übereinander, drehte ihren Fuß in alle Richtungen und knetete ihren Knöchel.
»Brecht«, wiederholte sie. »Sag mal, was ist denn mit dir im Lauf der Zeit passiert? Du liest?«
»Habe die richtigen Frauen kennengelernt.«
Wir hoben unsere Gläser.
»Auf was?«, fragte Merle.
»Auf ein langes Leben, kleine Jungs und Mercedes-Sterne.«
Merle warf mir im Spaß einen strengen Blick zu. Wir stießen an und schwiegen. Das Surren des Kühlschranks wurde lauter. Nachdem wir die anfängliche Stille unterbrochen hatten, fühlte es sich merkwürdig an, wieder in sie zurückzukippen. In der Hoffnung, dass von draußen Geräusche in die Wohnung dringen würden, öffnete ich das Fenster, aber es war erstaunlich ruhig; außer einem vereinzelten Hupen oder dem Rauschen einer Straßenbahn in der Ferne war nichts zu hören. Merle schwenkte ihren Wein, als sei es Cognac.
»Wollen wir aufs Sofa?«, fragte sie, aber ich sah mich demonstrativ in der Wohnung um, weil ich sie darauf aufmerksam machen wollte, dass es kein Sofa gab.
»Was?«, fragte sie.
|62| »Das ist eine Ein-Zimmer-Wohnung.«
»Und?«
»Ich habe kein Sofa. Musste ich beim letzten Umzug schweren Herzens entsorgen.«
Sie deutete in eine Ecke des Raumes. »Und was ist das da?«
Bevor ich antwortete, nahm ich einen Schluck Wein. »Mein Bett.«
»Und?«
»Na ja, das ist halt ein Bett und kein Sofa.«
»Und? Können wir doch die Decke drüberlegen.«
In dem Moment bemerkte ich eine seltsame Hitze in mir aufsteigen, wie ich sie das letzte Mal vor der Führerschein- oder der Gesellenprüfung gespürt hatte. Seit Jahren hatte ich nicht mehr an Phillip gedacht, aber mit einem Mal war es, als würde er bei uns am Tisch sitzen und mir schelmisch zuzwinkern.
»Das ist doch bequemer als die Stühle hier«, sagte Merle und war schon auf dem Weg zum Bett.
»Okay«, antwortete ich und erhob mich zögerlich. Weder wusste ich, was ich befürchtete, noch, was ich erwartete oder wollte.
»Machst du Musik an?«
Ich hockte mich vor meine Plattensammlung, wusste aber nicht, welches die passende Musik für diesen Moment war. Das Zeug, das ich üblicherweise im Hintergrund laufen ließ, wenn ich Frauen mit zu mir in die Wohnung brachte, schien mir auf einmal zu schmierig.
»Was Elektronisches?«, schlug Merle vor.
»Vorzügliche Wahl«, antwortete ich mit Betonung auf dem Ü. Während ich durch die Platten und CDs blätterte, fiel mir erst auf, wie dusselig ich meine Antwort fand, überlegte dann, ob ich vorher jemals das Wort
vorzüglich
gesagt hatte, und bemerkte im nächsten Moment, dass ich noch nie eine Frau mit zu mir genommen hatte, ohne die Absicht, sie flachzulegen.
|63| Merle deutete auf einige Stapel Bücher in der Zimmerecke. »Hast du die alle gelesen?«
»Ja. Habe aber auch gerade welche auf dem Flohmarkt eingetauscht«, antwortete ich und legte eine CD ein.
»Hast du früher im Heim auch schon gelesen?«
»Nee, früher nicht.«
»Früher bist du immer gelaufen. Da bist du ständig gelaufen, genau. Machst du das noch?«
»Und Muckibude«, sagte ich, erhob mich und
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