Nachtleben
Haufen Klassiker gelesen und war in der Lage, über Literatur, Philosophie und lauter Dinge, von denen ich nichts verstand, zu diskutieren.
So clever sie auf der einen Seite war, so dusselig wirkte sie auf der anderen. Aus Prinzip trug sie keine Rucksäcke, weil sie es nicht mochte, dass ihr etwas im Rücken saß. Handtaschen waren ihr aber zu mädchenmäßig, sodass sie immer eine Jutetasche, wie man sie im Supermarkt bekommt, bei sich hatte, die sie, am langen Arm baumelnd, mit sich herumschleppte. Bei jedem zweiten Schritt schlug die Tasche gegen ihren Hacken und dröselte sich ein und aus. Darin hatte sie ein abgegrabbeltes Notizbuch, in das sie ständig irgendwelche Sätze kritzelte, ein Lederetui für ihre Stifte, Bücher und Zeitschriften, selbstaufgenommene Kassetten, ein Taschenmesser und ein Paar dicke Socken. Für alle Fälle, sagte sie, als ich fragte, wofür sie die Socken brauche.
Einmal saßen wir bei mir, und sie ließ ihren Blick durch meine Wohnung wandern, während eine Kassette lief, die sie für mich aufgenommen hatte.
»Das ist die unpersönlichste Wohnung, die ich je gesehen habe«, sagte sie, aber ich wusste nicht, was sie meinte. »Hier hängt nichts an den Wänden, es stehen keine Bücher oder Platten rum«, sie machte eine Pause. »Und das sind alles nur wahllos zusammengesuchte Möbel. Hier könnte jeder wohnen.«
Das Zeug in meiner Wohnung war tatsächlich wahllos zusammengesucht, weil ich nie Lust gehabt hatte, Geld für Dinge auszugeben, die ich auch übers Amt, vom Sperrmüll oder über Kollegen bekommen konnte. Ein Tisch war so gut wie der andere, und das einzige Möbelstück, an dem ich hing, war das alte knallrote Sofa mit seinem abgewetzten Bezug, auf dem wir hockten, das mir Flavios Oma einmal zu Weihnachten geschenkt hatte.
|107| »Da drüben hängt ein Foto«, sagte ich, und Pia stand auf, um es sich anzusehen.
»Ist das eine Autogrammkarte?«, wollte sie wissen.
Ich nickte.
»Wer ist die Frau?«
Nach kurzem Zögern sagte ich: »Weiß ich nicht.«
»Und warum hängt das dann da?«
»Das hat jemandem gehört, der mir wichtig war.«
»Verwandtschaft?«
»Irgendwie schon.«
Mit dem Bild in den Händen, setzte sich Pia zu mir aufs Sofa und betrachtete es eine Weile. »Kennst du deine Familie überhaupt nicht?«, fragte sie schließlich, und ich schüttelte den Kopf. »Und interessiert dich das auch gar nicht?«
»Ich wüsste nicht, was ich meiner Mutter sagen sollte, und nur um ihr Vorwürfe zu machen, muss ich sie auch nicht wiedersehen«, murmelte ich und spielte dabei am Saum von Pias Bluse herum.
»Warst du neidisch, weil deine Schwester in einer Pflegefamilie groß geworden ist?«
»Habe ich nicht drüber nachgedacht. War halt so, wie es war. Schon okay.«
Pia streckte sich auf dem Sofa aus und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Ich streichelte ihren Nacken.
»Das macht bestimmt einen Unterschied, ob man im Heim oder in einer Pflegefamilie groß wird«, sagte sie. »Hatte sie wahrscheinlich schon mehr Chancen als du.« Ich wickelte eine Strähne von Pias Haaren um meinen Zeigefinger und sah zu, wie sich das Blut in der Fingerkuppe staute.
»Was macht deine Schwester?«
»Keine Ahnung«, sagte ich tonlos.
»Und deinen Vater kennst du gar nicht, oder?«
»Nee. Ich weiß auch nicht, ob meine Mutter wüsste, wer das war. Ich glaube, das war ein Freier. Keine Ahnung.«
»Nichts über meine Eltern zu wissen würde ich nicht aushalten«, |108| sagte Pia. »Selbst wenn ich feststelle, dass meine Familie nur aus Vollidioten besteht, würde ich das doch gerne wissen wollen.« Sie betrachtete das Foto. »Man muss doch wissen, wo man herkommt. Wie bei Geschichte. Woher willst du denn wissen, wer du bist, wenn du nicht weißt, woher du kommst?«, sagte sie, und ich nahm ihre Hand und massierte ihre Finger.
Als ich Pia das erste Mal weinen sah, wusste ich nicht, wohin mit mir. Sie kam in meine Wohnung gestürmt, knallte die Tür hinter sich zu, schmiss ihre Jutetasche in die Ecke und brach in Tränen aus, ohne mir zu erzählen, was passiert war, und versuchte nicht einmal, sich zu beherrschen. Zusammengerollt lag sie auf meinem Sofa, als würde sie jede Sekunde zwischen den Kissen verschwinden. Ich konnte nicht anders, als ihr beim Weinen zuzuschauen, und es war schön. Vielleicht, weil es ehrlich war und sie sich mir so schutzlos zeigte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, einfach nur dazustehen, also setzte ich mich neben sie und stammelte tröstend
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