Nachtleben
vor mich hin.
»Kannst du vielleicht einfach mal die Klappe halten und mich heulen lassen?«, schluchzte sie. Im nächsten Moment umarmte sie mich und drückte ihr Gesicht an meinen Brustkorb. Seit meiner Kindheit hatte ich keine fremden Tränen mehr an meinem Körper gespürt. Erst sifften sie warm durchs Hemd an meine Haut und schienen dann eine Art Versiegelung aufzuweichen, von der ich im Laufe der Zeit vergessen hatte, dass sie überhaupt existierte.
Nach einer Weile nahm sie meine Hand und fragte schniefend: »Machst du mir jetzt den leckersten Kaffee der Welt?«
Mir schossen Tränen in die Augen, und ich konnte minutenlang nicht aufhören, Rotz und Wasser zu heulen. Ich hätte nicht sagen können, weshalb ich weinte, ob aus Trauer oder vor Wut oder Glück. Genauso wenig wusste ich, woher die Tränen kamen, aber sie fühlten sich alt und abgestanden |109| an, als würde ich den vollgelaufenen Keller eines baufälligen Hauses auspumpen. Anschließend war tatsächlich irgendetwas irgendwie gut, und der Kaffee schmeckte anders. Wir saßen auf meinem schäbigen Sofa in der Sonne, Pia hatte sich ihre Socken angezogen und kritzelte lächelnd etwas in ihr Büchlein. Wenn sie zu lächeln aufhörte, war es jedes Mal, als würde sich der Schnee in einer Schneekugel setzen. Zum Glück hörte sie selten auf zu lächeln.
Einmal kam sie zu mir, knallte ein Buch auf den Tisch und sagte: »Das musst du unbedingt lesen.«
Das letzte Mal hatte ich in der Schule ein Buch in der Hand gehabt, und mehr als Tageszeitungen oder Stadtmagazine hatte ich seitdem nicht gelesen. Dementsprechend wenig Lust hatte ich, mir das Ding vorzunehmen. Aber Pia gab es mir mit einer Begeisterung, wie Flavio einen vollen Kasten Bier mitgebracht hätte, hätte er zufällig einen an der Straßenecke gefunden. Nachdem ich zu lesen angefangen hatte, nur um Pia zu beeindrucken, konnte ich das Buch schon nach ein paar Kapiteln nicht mehr aus der Hand legen. Anders als beim Fernsehen, wo ich meistens nur am Rumzappen war und der angenehmste Moment das Ausschalten und das anschließende Knistern des Gerätes war, verschwanden Zeit und Außenwelt mit mir in dem Buch. Beim Lesen hatte ich genauso meine Ruhe wie beim Laufen.
Als Pia mich fragte, was ich für Musik hörte, zuckte ich nur mit den Schultern. »Na, was es halt so gibt«, sagte ich, und sie lachte mich aus, bevor sie mir ihre Lieblingsbands vorspielte, von denen ich nicht eine einzige kannte. In der folgenden Zeit schleppte sie mich auf Konzerte, Lesungen oder ins Kino, und wenn wir zusammen im Bett ausnüchterten, sahen wir uns alte Kinderserien im Fernsehen an, die sie in- und auswendig kannte, die ich früher aber nur selten zu sehen bekommen hatte.
|110| Flavio war irgendwann genervt. Einmal kam er, als wir im White Palms arbeiteten, auf mich zu, während ich Pause machte und in der Garderobe zwischen Jacken und Mänteln in einem Buch schmökerte.
»Was liest du denn?«, wollte er wissen.
»Lyrik«, antwortete ich und hätte genauso gut
Gedichte
sagen können, sagte aber
Lyrik
, weil ich wusste, dass er es nicht verstand.
»Worum geht’s?«, hakte er nach. Auch wenn er mein bester Kumpel war, wollte ich ihn in dieser Welt nicht dabeihaben.
»Natur und so«, antwortete ich, den Blick noch immer im Buch. Die Nächte an der Tür, das Trainieren, der Männerkram war unsere Welt. Und dann gab es die Welt von Pia und mir.
»Wie?«, erkundigte er sich. »Natur?«
»Na ja, so Bilder aus der Natur«, sagte ich, »die aber auch was anderes bedeuten können.«
Zwar gab es Überschneidungen zwischen diesen Welten, aber ich wollte sie so weit wie möglich getrennt voneinander halten. Diese andere Welt musste er nicht begreifen.
»Gib mal ein Beispiel«, sagte er.
»Na ja, wenn zum Beispiel jemand will, dass bald wieder Frühling wird, kann das heißen, dass er sich seine Jugend zurückwünscht oder so was«, erklärte ich.
Vielleicht hätte ich mich darüber freuen sollen, dass er sich überhaupt dafür interessierte, was mit mir los war, aber es war mir egal.
»Hat die Alte dir gesagt, dass du das lesen sollst, oder findest du das echt geil?«
»Bei Lyrik geht’s nicht darum, ob sie geil ist«, sagte ich. »Da geht’s darum, ob sie dich berührt.«
»Berührt die Alte dich denn auch ab und zu, oder musst du das jetzt selbst erledigen, wenn du nicht gerade liest?«, fragte Flavio, bevor er breitbeinig davonstolzierte.
|111| Samstags gingen Pia und ich manchmal auf den
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