Nachtleben
Flohmarkt, wenn wir die Nacht durchgefeiert hatten und noch nicht müde waren. An einem Vormittag im Oktober lehnten wir übernächtigt an einem Imbissstand, aßen Currywurst mit Pommes, und Pia blätterte in einem Stapel Fotos, die sie gekauft hatte. Sie sammelte alte Schwarzweißbilder, bastelte aus diesen Aufnahmen wildfremder Menschen Fotoalben zusammen und dachte sich Bildunterschriften für sie aus.
»Ist das nicht großartig?«, fragte sie und hielt mir ein Foto hin. Darauf zu sehen war ein dicklicher Junge, nicht älter als zwölf Jahre, in Cowboyverkleidung, der an einen Holzmast wie an einen Marterpfahl gelehnt stand, und ein vielleicht achtjähriges Mädchen, ebenfalls kostümiert, drückte ihm eine Spielzeugpistole auf den Bauch.
»Für solche Bilder lohnt sich das Sammeln«, sagte Pia. Während sie noch immer das Foto begutachtete, spießte sie Wurst und Pommes auf, öffnete den Mund aber nicht weit genug, und alles kleckerte über ihren Pullover auf den Boden.
»Oh, nee.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich über den Pullover, verschmierte den Ketchup dabei aber nur noch mehr.
»Maaann, ey«, nölte sie, schnappte sich ihr Bier, nahm einen Schluck, und beim schwungvollen Absetzen sprudelte ihr der Schaum erst über Hand und Ärmel und schließlich auf die Hose. »Oh, was ist das denn hier heute?!«, fluchte sie und knallte die überlaufende Flasche zurück auf den Tresen des Imbisswagens.
»Reicht ein Papiertuch, oder wollnse lieber duschen, junge Frau?«, fragte der Typ vom Imbiss. Er war schon dabei, ein Haushaltstuch von der Rolle zu friemeln, da bollerte Pia zurück: »Ey, ich hab für dein fettiges Essen bezahlt, nicht für dein Gelaber.«
Der Kerl erstarrte in der Bewegung und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Was?«, fragte er.
»Lass mal gut sein«, sagte ich zu Pia.
|112| »Ey, ich muss mir doch nicht von ’nem Typen gute Ratschläge geben lassen, der sein Leben damit verbringt, Würstchen zu wenden«, zickte sie weiter.
Er warf mir einen Blick zu, als sei Pia meine ungezogene Tochter. »Sorg mal dafür, dass die Kleine ganz schnell Land gewinnt.«
»Du kannst schon direkt mit mir reden, Fettsack«, konterte Pia, und er langte flinker, als ich es ihm zugetraut hätte, über den Tresen und schnappte sich ihre Flasche.
»So, Feierabend«, sagte er. »Abflug, Madame.«
»Ey, du kannst mir nicht mein Bier klauen. Dafür habe ich bezahlt.«
Er griff in seine Geldkassette und holte ein Fünfmarkstück heraus.
»Hier, meine Beste«, sagte er und warf das Geld in ihre Pommes. »Kohle zurück. Und vom Rest lernste irgendwo essen und trinken, ja?«
Pia verschränkte die Arme. An ihrem Kinn klebte, genau wie auf ihrem Pullover, Ketchup, und auch auf ihrer Hose hatten die Pommes kleine rote Spritzer neben dem Bierfleck hinterlassen. Sie sah mich an: »Sag du doch auch mal was!«
Ich liebe dich, dachte ich, zuckte aber mit den Schultern und sagte es nicht.
Wir haben es nie gesagt.
Weil ich Pia zu eifersüchtig war, kam sie irgendwann auf die Idee für ein Experiment, um mich auf die Probe zu stellen. In der wenigen Zeit, die wir miteinander verbrachten – meistens sahen wir uns nur an den Wochenenden –, hielt ich es in der Tat nur schwer aus, wenn sie sich mit anderen Kerlen unterhielt. Das Experiment hatte ich anfangs für eine Schnapsidee gehalten und mich nur in der Hoffnung darauf eingelassen, dass es sich mit dem Zustimmen bereits erledigt hätte. Einige Wochen später zogen wir aber mit dem Vorsatz los, Leute kennenzulernen und uns ihnen gegenüber als Bruder und |113| Schwester auszugeben. Dabei war es meine Aufgabe, es auszuhalten, wie sie mit anderen Kerlen flirtete, und ich sollte meinerseits versuchen, Frauen aufzureißen.
Nachdem wir zu Hause vorgeglüht hatten, schleppte Pia mich an die Theke einer Cocktailbar mit Pianomusik und gedimmtem Licht. Die Cocktails standen gerade erst vor uns, da hatte Pia bereits einen Anzugträger Mitte dreißig im rosa Hemd am Wickel und machte ihm schöne Augen. Von mir aus hätten wir das Experiment sofort abbrechen und für gescheitert erklären können. Weil ich mir die Blöße aber nicht geben wollte, sah ich mich um und entdeckte eine Brünette, die am anderen Ende der Bar saß und erst auf ihre Uhr, dann zur Tür schaute. Ihr Hintern steckte in einem grauen Kostümchen, als sei sie direkt von einem Job am Bankschalter in die Bar gekommen.
»Richard?«, fragte Pia, und ich sah sie überrascht an, weil sie mich für
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