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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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damals nie Glück gehabt. Deine Mutter hat irgendwann kalte Füße bekommen. Den letzten Abend war sie total stressig, obwohl sie den Tag durch mit euch irgendwie im Zoo oder irgendwo war. Ich dachte, die wäre total entspannt. Aber die hat total die Thermik gemacht. Keine Ahnung, was da wieder los war. Dann haben wir uns in die Wolle bekommen, und irgendwie ist alles aus dem Ruder gelaufen.«
    »Ich war froh, als uns die Polizei aus der Wohnung geholt hat«, sagte ich. »Ich fand’s auch nicht schlimm, ins Heim zu kommen.«
    »Nicht?«
    »Ich fand das eigentlich ganz gut«, sagte ich. Nach einer kurzen Pause fuhr ich fort: »Die anderen Kinder im Heim wollten halt unbedingt zurück in ihre Familien oder adoptiert werden oder so.« Alles, was im Laufe der Zeit in mir zur Ruhe gekommen war, schien aufgequirlt wie Dreck und Steinchen in einem Eimer Wasser, und Franz als lebender Beweis dafür, dass es diese Vergangenheit gab, rührte mit seinen Armen in der Brühe. Zum ersten Mal seit Jahren musste ich an Werner denken und wie er immer wieder das Gespräch mit mir gesucht hatte, um mir zu versichern, dass es alles nicht meine Schuld wäre.
    Ich kicherte. »Unser Heimleiter«, sagte ich, »hat sich irgendwann richtig Sorgen gemacht, weil ich nicht ständig am Rumheulen war wie die anderen Kinder, sondern das einfach alles so hingenommen habe und auch noch okay fand.«
    |99| »Aber was war das denn für ’ne Pfeife«, sagte Franz, »wenn der das mit dir und Ingrid nicht geregelt bekommen hat?«
    Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Zug an der Kippe. »Das hat dem schon zugesetzt«, sagte ich. »Zu Anfang habe ich auch noch ab und zu deswegen nachgefragt, aber irgendwann …«, ich schnaufte leise. »Das stand halt immer unausgesprochen im Raum. Irgendwie hatte er auch voll das schlechte Gewissen, glaube ich, aber er konnte es halt auch nicht ändern.«
    Franz sah mich an und nickte vor sich hin.
    »War schon okay«, sagte ich. »Dadurch hatte ich irgendwie Narrenfreiheit bei ihm. War auch nicht schlecht.« Als Franz weiter schwieg sagte ich: »Außerdem gab’s im Heim keine Prügel mehr.«
    »Nun mach das mal alles nicht schlimmer, als es war«, sagte Franz, während er die Kippe in der Nachttischschublade ausdrückte … »Deine Mutter war schon ’ne Gute. Die eine Nacht war schlimm. Das war gut für euch Kinder, dass die Nachbarn die Polizei gerufen haben.«
    »Die Marquards«, sagte ich.
    »Ja. Genau! Wie die alte Schnepfe mich im Treppenhaus immer angegiftet hat.« Er lachte wieder. »Wenn Blicke töten könnten. Aber das waren schon gute Nachbarn. Gut für euch Kinder.«
    »Meine nervt gerade«, unterbrach ich das Gespräch, und Franz sah mich irritiert an. »Meine Nachbarin, meine ich. Die nervt.« Damit schnippte ich die Kippe vom Balkon, schloss die Tür hinter mir und setzte mich wieder zu ihm ans Bett. Die Schwester kam mit den Blumen in einer Vase zurück.
    »So, hat einen Moment gedauert. Im Zimmer gegenüber hat jemand so viel Blut verloren.« Zügig ging sie an mir vorbei, stellte die Vase auf das Nachttischchen, schnupperte und sah uns streng an, bevor sie mit erhobenem Zeigefinger davonstolzierte. »Ich weiß von nichts«, sagte sie überfreundlich und verschwand.
    |100| »Ich stehe ja auf so dicke Hintern«, sagte Franz. »Und wieso nervt deine Nachbarin?«
    »Die stampft. Da hört man jeden Schritt. Ich habe schon überlegt, einen Tennisball zu kaufen und damit immer mit voller Wucht an die Stelle der Decke zu donnern, an der sie gerade steht, damit sie es merkt. Hab’s aber noch nicht gemacht.«
    »Nee, mach das nicht, Junge. Haste schon mit der geredet?«
    »Die versteht das nicht. Die merkt nicht, dass sie stampft.« »Mach was Nettes. Du weißt doch nie, was als Nächstes passiert. Vielleicht wohnt ihr da noch jahrelang zusammen in dem Haus. Keinen Stress machen. Das bringt nichts«, sagte er, und ich versuchte, mich deutlicher an den Franz von früher zu erinnern.
    Eine Weile schwiegen wir.
    »Kommste morgen wieder?«, fragte Franz schließlich, und ich nickte. »Bringste mal ’nen Whiskey-Flachmann mit, ja?«
     
    Dann hatte er noch eine Idee, um mit der Mieterin über mir in Kontakt zu kommen. Es war Ende November. Zum Nikolaus stellte ich ihr zwei hässliche, Bärentatzen-Puschen mit einem Schokonikolaus und einem Brief vor die Tür. Obwohl es nur wenig besser wurde, merkte ich doch, dass sie sich Mühe gab.

|101| März 1995
    Pia konnte auf den Fingern pfeifen. Als ich sie das

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