Nachtmahl im Paradies
war eine Frau – und Frauen kamen dank ihres angeborenen Helfersyndroms auf die verrücktesten Ideen.
Wie auch immer! Jacques musste sich sputen, wenn er Gustave – seinen Anwalt und einzigen Freund neben seinem Leibarzt Patrice – nicht versetzen wollte. Wie auf Zehenspitzen schlich er im Rückwärtsgang aus dem Feld, bis er wieder festeren Boden unter den Reifen verspürte. Was für eine merkwürdige Frau, dachte er und befehligte mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal sein göttliches Gefährt zurück auf die Landstraße.
»Entschuldige bitte, aber ich hatte eine Begegnung der dritten Art«, erklärte er seine gut zehnminütige Verspätung, als Gustave ihm höchstpersönlich die Tür öffnete.
Offensichtlich hatte Marie, seine neunzehnjährige und, nebenbei bemerkt, nicht unattraktive Rechtsanwaltsgehilfin in Ausbildung, mal wieder verschlafen.
»Hattest du wieder den Asche-Traum?«, fragte Gustave, während er schwer seufzend die Tür hinter Jacques ins Schloss fallen ließ.
Gustave hatte einen dicken Bauch und spindeldürre Beine – was wiederum Patrice, der zusammen mit ihm und Jacques eine Art Trio Fatal bildete, aus ärztlicher Sicht in permanente Sorge um seinen Freund und Rechtsbeistand versetzte.
Der Asche-Traum. In letzter Zeit hatte er des Öfteren in Jacques’ Kopf herumgespukt, und weil er fürchtete, bald ganz und gar verrückt zu werden, hatte er Patrice erzählt, dass der Traum nach einer Pause von fast zwei Jahren in seine Nächte zurückgekehrt war. Er war davon ausgegangen, dass er diese wichtige Patienteninformation Patrice, seinem Arzt, anvertraut hatte. Patrice dagegen hatte offenbar geglaubt, er habe sich in dieser Sache an Patrice, seinen engsten Freund, gewandt. Dieser musste sich natürlich nicht an sein ärztliches Schweigegelübde gebunden fühlen und konnte die Meldung ohne schlechtes Gewissen direkt an Gustave weitergeben. Voilà!, hier, an diesem Morgen in Gustaves Praxis, schloss sich der Kreis wieder einmal!
Nachdem Elli gestorben war, hatte Jacques es nicht übers Herz gebracht, sich ihrem letzten Willen zu fügen und ihren Körper dem Feuer zu übergeben. Er wusste, was die Menschen über die Seele sagten, glaubten, spekulierten – aber trotz allem war es der Körper der Frau gewesen, die er über alles geliebt und verehrt hatte auf dieser Welt, weit mehr als sich selbst. Ein Körper, der ihm mit den Jahren und Jahrzehnten fast so vertraut geworden war wie sein eigener. Jeden Zentimeter dieses Leibs hatte er unzählige Male zärtlich betrachtet, berührt, liebkost. Aus ebendiesem simplen Grund war es ihm einfach nicht möglich, Elli – oder das, was von ihr übrig war – mit sanftem Gleichmut in einen auf die Temperatur der Hölle aufgeheizten Verbrennungsofen zu schieben. Dabei war ihm durchaus klar, dass die Vorgänge unter der Erde nicht weniger besorgniserregend waren.
Stattdessen begrub er sie in einem weiß lackierten Holzsarg, auf den er und alle ihre gemeinsamen Freunde – und das war nahezu das ganze Dorf – mit roter Ölfarbe Herzen malten, große, kleine, unzählig viele. Wer wollte, schrieb eine letzte Botschaft an Elli in sein Herz. Jacques’ Herz, das größte von allen, das auf dem Deckel des Sarges direkt über ihrer Brust prangte, genau dort, wo sich ihr Herz befand, das zu schlagen aufgehört hatte, blieb ohne Worte. Sosehr er auch danach gesucht hatte, ihm war nichts in den Sinn gekommen, das auch nur annähernd hätte ausdrücken können, wie sehr er sie geliebt hatte.
Gandhi hatte einst gesagt, dass es besser sei, in ein Gebet ein Herz ohne Worte zu legen als Worte ohne Herz. Also legte Jacques die rechte Hand auf das rote Herz auf dem Sarg, ganz so, als würde er sie unendlich sanft auf Ellis Herz betten, damit es ruhig schlafen konnte. Danach hatte er die Umrisse seiner Finger mit einem Stift nachgezogen. Seine Hand auf ihrem Herz – das war sein Abschiedsgruß an Elli gewesen. Bis zum heutigen Tag bemerkte er hin und wieder ein geheimnisvolles Pochen auf seiner Handinnenfläche, das an jenem Tag zum allerersten Mal aufgetaucht war.
Wenig später waren dann diese merkwürdigen Träume gekommen, die bis heute in regelmäßigen Abständen wiederkehrten. Im Grunde war es immer derselbe Traum: Er, Jacques, stand auf dem Friedhof vor Ellis Grab, und plötzlich fing es an zu regnen. Doch es waren keine Wassertropfen, die vom Himmel fielen, sondern hauchdünne Flocken aus schwarzer Asche. Sie waren überall und hüllten ihn ein wie ein
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