Nachtmahl im Paradies
wirkliche Leben zu verlassen und in einer Schublade zu landen, auf der »Erinnerungen« geschrieben stand.
Das Schälchen mit den Pralinen mit der Piemont-Kirsche war selbstverständlich nur der Gipfel des Eisberges, den Rest seiner Vorräte hortete Gustave in seinem mächtigen Safe hinter der gelungenen Kopie eines Renoir über dem Kamin an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Zusammen mit seinen Wertpapieren, Bargeld in verschiedenen Währungen, seinem Testament und einer vertrockneten Sonnenblume, die ihn an eine längst vergangene Liebe erinnerte. Die einzige Liebe seines Lebens. Auch wenn nicht jeder in Trouville sie als solche bezeichnen würde – aber man steckte eben nicht drin in den Menschen.
Gustaves Exfrau Virginie war eine Femme Fatale, wie sie Chabrol nicht besser hätte zeichnen können. Sie hatte das Kunststück fertiggebracht, dieses prächtige Mannsbild von einem Juristen innerhalb der knapp elf Monate, die sie miteinander verheiratet gewesen waren, von einer allen Stürmen des Lebens trotzenden normannischen Eiche in einen Grashalm zu verwandeln, der dem leisesten Windhauch nichts entgegenzusetzen hatte. Als das vollbracht war, zog sie zur Selbstfindung nach Saint Tropez, von wo aus wiederum sie nur wenig später mit einer russischen Balletttänzerin nach Las Vegas durchbrannte. C’est la vie!
»Sie hat mich geliebt«, pflegte Gustave bis heute zu sagen. Der Vorfall lag inzwischen mehr als ein Jahrzehnt zurück, und er hatte seitdem keine andere Frau mehr angefasst.
Jacques, der wusste, wie weh die Liebe tun konnte, hatte bis heute einen Teufel getan, seinen Freund und Anwalt vom Gegenteil zu überzeugen.
»Santé!« , sagte er und stieß mit Gustave an.
Konnte man sich mit Mon Chéri betrinken? Nun, Gustave hatte es einige Male versucht – doch Fehlanzeige. Bevor er etwas hatte merken können, war ihm schlecht geworden von der Überdosis Schokolade. Dennoch hortete er stets zwölf Packungen davon als Notfallration in seinem Safe. »Für den Fall eines plötzlichen Weltuntergangs«, lautete seine einleuchtende Begründung für diese ungewöhnliche Maßnahme. Auch er hatte gelesen, dass man in gewissen spirituellen Kreisen auf den 21. Dezember 2012 tippte. Da er laut Patrice’ dringender Empfehlung keinen Alkohol im Haus haben durfte, um sich einen hinter die Binde zu kippen – falls an jenem Tag tatsächlich die Welt unterginge –, hatte er die Pralinen bereitgelegt. Rein rechnerisch reichten zwölf Packungen aus, um sich abzuschießen. Wenn es der Schnaps nicht tat, dann die Schokolade. Davon abgesehen war die Zwölf eine biblische Zahl – ein gutes Omen. Falls an besagtem Tag Gott oder Jesus oder gar beide zusammen in seine Kanzlei spaziert kämen, würde er einfach den Safe aufsperren und sagen: »Was für ein Zufall, dass ihr gerade vorbeikommt. Euer Kollege ist schon da: Voilà! ,der Heilige Geist!«
Jacques nahm sich eine zweite Praline und entblätterte sie gedankenverloren mit den Fingern, während Gustave sich ebenfalls nachschenkte .
»Noch können wir das Paris retten«, sagte Gustave. Ohne weitere Vorwarnung, dafür aber mit einem ebenso plötzlich auflodernden dramatischen Flackern in den Augen, nahm er Jacques‘ Hand, in der sich noch das rosafarbene Pralinenpapier befand, und sah ihn eindringlich an. »Jacques. Was du brauchst, ist ein Partner. Jemand, der den Laden mit dir schmeißt. Jemand, der deine Kunst zu schätzen weiß. Jemand mit Herz, Verstand – und Kapital.«
Jacques genoss es, seit langer Zeit einmal wieder zu hören, dass er ein Künstler sei. Obwohl er wusste, dass es eine Lüge war. Er war früher ein Künstler gewesen, aber das war lange her. Momentan war er davon so weit entfernt wie Gustave, sein Anwalt und Freund, von einem echten Renoir in seinem Büro, auf den er schon so lange hinarbeitete.
»Du kennst also jemanden, der dafür in Frage käme?«, fragte Jacques, mehr kapitulierend als aus echtem Interesse.
Gustave nickte.
»In der Tat, man könnte sagen: ein glücklicher Zufall. Jemand, der geradezu vom Himmel gefallen ist.«
Jacques fragte sich, was Gustave ihm damit nun wieder sagen wollte.
»Manchmal fällt ja – außer Regen und Asche – auch etwas Gutes vom Himmel, nicht wahr, Chef?«
Chef war Jacques’ Spitzname, so wie der von wohl jedem Koch auf dieser Welt.
»Wann können wir diesen vom Himmel gefallenen Engel treffen?« Einen Moment lang stellte er sich Nicolas Cage in dem Film Stadt der Engel vor. Einen zurückhaltenden,
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