Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
schweigend. Nur das Klacken der Tastatur und das leise Schaben der Maus waren zu hören, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von einem klagenden Geräusch aus den Schächten der Klimaanlage. Sie kamen zügig voran, dennoch war ihnen klar, dass sie bislang kaum mehr als die Hälfte geschafft hatten.
Raika schimpfte immer häufiger leise vor sich hin, während Lucy hin und wieder einen Seufzer hören ließ.
»So kann man eine vielversprechende Nacht vergeuden«, brummelte sie ungehalten. Die beiden Männer lachten und stellten Vermutungen an, wen oder was Lucy in dieser Nacht alles verpassen könnte.
Raika sagte nichts, obgleich ihr der Gedanke aus der Seele sprach. Sie würden auf keinen Fall bis Mitternacht fertig werden, das war klar. Es war bereits halb zwölf, und sie spürte, wie die wohlbekannte Nervosität nach ihr griff. Das Kribbeln begann in den Füßen und stieg ihr die Beine hoch. Dann zitterten ihre Finger. Raika ließ die Maus los und verbarg ihre bebenden Hände unter dem Schreibtisch. Auch ohne auf die große Bahnhofsuhr über der Tür zu sehen, wusste sie, dass es kaum mehr als fünf Minuten vor Mitternacht war. Sie musste hier raus. Sofort!
Es nötigte ihr all ihre Selbstbeherrschung ab, sich langsam von ihrem Stuhl zu erheben und ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Ich brauch mal eine Pause«, sagte sie und schlenderte betont lässig zur Tür. Erst als sie diese hinter sich geschlossen hatte, begann sie zu laufen.
»Gute Idee!«
Sie hörte noch Brents Worte, der ebenfalls aufsprang und ihr nachrief, sie solle auf ihn warten, doch darauf konnte und wollte sie nicht eingehen. Sie rannte den Flur entlang, am verwaisten Empfang vorbei. Es stand natürlich wieder keiner der Aufzüge parat. Einer war unten im Erdgeschoss, der andere bummelte zwischen dem vierten und dem fünften Stock herum. Bis der endlich hier oben war, würde eine Ewigkeit vergehen. Raika riss die Tür zum Treppenhaus auf und blickte den Treppenschacht hinab. Sechsundzwanzig Stockwerke, das war selbst für sie in den wenigen Minuten, die ihr noch blieben, nicht zu schaffen. Dann also hinauf. Bis zum Dach waren es nur vier Etagen.
Raika stürmte los, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Ihr Atem ging stoßweise, das Herz hämmerte ihr in der Brust.
Unten wurde die Tür zum Treppenhaus noch einmal geöffnet.
»Raika? Warte doch. Ich komme mit«, hörte sie Brents Stimme.
Verfluchter Narr! Sie hatte jetzt keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Verdammt, warum hatte sie auch bis zur letzten Minute gewartet?
Noch zwei Windungen. Sie konnte bereits die Stahltür sehen, die die letzte Schranke zwischen ihr und der frischen Nachtluft bildete. Ein letzter großer Satz. Sie umklammerte die Klinke und stieß die Tür auf, als von einem Kirchturm der erste Glockenschlag ertönte.
Mitternacht!
Sie sog die kühle Nachtluft ein und hatte das Gefühl, nie etwas Köstlicheres gerochen zu haben. Ihre Beine trugen sie über das kiesbedeckte Flachdach, doch sie spürte sie kaum mehr. Während die zwölf Schläge durch ihren Schädel dröhnten, riss sie sich ihren Blazer und ihre Bluse vom Leib. Dann blieb sie stehen und streifte die Pumps ab. Ihr Rock fiel zu Boden. Sie warf die Arme in die Luft, als der letzte Glockenschlag ihren Körper erzittern ließ. Ein Schrei, der seltsam unmenschlich klang, stieg aus ihrer Kehle. Die Wandlung ließ sie erbeben.
»Raika?«
Ein wenig zögerlich öffnete Brent die Metalltür, die auf das Dach hinausführte. »Bist du da?« Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
Raika stieß einen Fluch aus. Mit ein paar riesigen Sätzen erreichte sie die Kante. Noch einmal warf sie einen Blick zurück, zu dem Mann, der ihr gefolgt war.
»Narr«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, und ihre Augen blitzten zornig. Dann breitete sie die Arme aus und hechtete nach vorn.
Sie fiel. Als der Wind über ihre nackte Haut strich, jauchzte sie vor Lust. Die dunkle Erde raste auf sie zu, doch noch immer zögerte sie den Moment hinaus. Sie liebte es, sich einfach fallen zu lassen. Es berauschte sie mehr als die Lust der Vereinigung. Blinde Scheiben flogen an ihr vorbei. Hinter kaum einer brannte mehr Licht. Die Straßenlaternen kamen rasch näher. Sie konnte ein paar Autos sehen, deren Scheinwerfer die Nacht durchschnitten.
Genug!
Sie spannte ihren Körper an und fühlte, wie sich die beiden Schlitze auf ihrem Rücken öffneten. Mit einem Wimpernschlag entfalteten sich die hauchdünnen
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