Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
sie wieder auf der Straße stand. Es herrschte noch buntes Treiben. Ganz anders als in der City lebte hier ein Gemisch aus Menschen, deren Vorfahren aus der Karibik stammten, von alten Leuten mit ihren kleinen Kramläden im Erdgeschoss, von Künstlern und Studenten, aber auch von reichen Familien, die den säulengeschmückten Villen entlang der Hauptstraßen zu neuem Glanz verhalfen.
Lorena sog die Luft tief ein. So viele Gerüche mischten sich hier. Von irgendwoher erklang das Klagen eines Saxofons. Sie folgte dem Klang, hörte dem Alten, der auf einer Bank saß, eine Weile zu, und warf ihm dann ein paar Pence in seinen Hut. Er neigte den Kopf und lächelte ihr zu. Lorena erwiderte das Lächeln. Als sie den Blick hob, fiel er auf das Aushängeschild des Friseurladens, den es vielleicht schon fast so lange hier gab wie Madam Rutherfords Teashop. Allerdings hatte hier der Besitzer erst gewechselt und warb nun mit modernem Chic zu kleinen Preisen. Lorena strich an ihren dunkelblonden, glanzlosen Strähnen entlang. Sollte sie es versuchen? Eine neue Frisur? Ein wenig Farbe?
Wozu? , fragte eine resignierende Stimme in ihrem Kopf, die an diesem Tag jedoch von einer neuen, energischen übertönt wurde.
Ja, klar! Komm, trau dich. Du hast dich gegen Alice durchgesetzt, das ist ein Grund zu feiern!
Mit forscher Miene betrat sie den Friseurladen und begab sich in die Hände eines jungen Mannes, dessen Frisur sie von Schnitt und Farbe nur als abenteuerlich bezeichnen würde. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Mut nachher nicht bereuen musste.
»Lorena? Bist du es wirklich?«
Sie schreckte hoch und starrte in ein Gesicht, das ihr fremd und doch auch vertraut vorkam.
»Erkennst du mich nicht mehr?« Er klang fast ein wenig gekränkt.
Bilder schossen ihr durch den Kopf. Der Unfalltod ihres Vaters, der nie ganz geklärt worden war. Die Verzweiflung und die Leere, die sie erfasst hatten, und dann ihre Flucht nach England auf die Highschool. Die vielen unbekannten Gesichter voller Neugier, aber auch abweisend der Deutschen gegenüber, die für die letzten drei Schuljahre von Hamburg her zu ihnen über den Kanal gekommen war. Doch dann war da dieser Junge zwei Klassen über ihr gewesen, der ihr in der Mensa einen Platz an seinem Tisch angeboten hatte.
»Jason? Nein, das glaube ich jetzt nicht!«, rief Lorena und umarmte ihn spontan. Errötend ließ sie ihn wieder los und trat einen Schritt zurück, doch er schien nichts dabei zu finden. Er musterte sie eingehend, als wolle er jede noch so kleine Veränderung aufspüren, die der Fluss der Zeit in fast zehn Jahren bei ihr hinterlassen hatte. Auch Lorena suchte in dem Mann den Schuljungen, den sie vom ersten Tag an heimlich bewundert hatte.
Jason war groß. Sie hatte schon immer zu ihm aufsehen müssen, und noch immer hatte er die Figur eines Sportlers. Sein Haar war ein wenig dunkler als früher, und er trug es kürzer, was ihm gut stand. Seine Züge waren männlicher, die Konturen schärfer geworden. Seine Haut war leicht gebräunt, und er hatte sich schon ein paar Tage nicht mehr rasiert, was ihm einen verwegenen Touch verlieh. Ja, er sah einfach umwerfend aus!
Überraschenderweise schien auch er mit seiner Musterung zufrieden, denn er nickte und lächelte Lorena an, dass sie glaubte, weiche Knie zu bekommen. »Du siehst gut aus«, sagte er. »Schöne Haarfarbe, und auch der Schnitt steht dir.«
»Danke, ich war gerade beim Friseur«, verriet sie ihm und strich über ihr duftendes Haar, das ihr durch den vorn gestuften Schnitt und ein paar Tricks des Figaros locker und weich über die Schultern fiel. Ein paar blonde und rötliche Strähnchen verliehen ihm neuen Glanz.
»Und was machst du hier?«, bohrte er weiter.
Lorena lachte. »Ich wohne hier. Nicht weit, die Portobello Road runter, wo es samstags den berühmten Straßenmarkt für Secondhandkleider und Antiquitäten gibt.«
Jason grinste. »Ah, dann hat es dich also doch in die Künstlerszene verschlagen. Ich wusste es! Du warst beim Schultheater brillant. Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen. Hast du Zeit? Du musst mir alles erzählen!«
Lorena fühlte sich ein wenig überrumpelt, doch was konnte der Abend Schöneres bringen als ein Wiedersehen mit einem geliebten Schulfreund? Es gibt keinen Grund, so nervös zu sein, versuchte sie sich einzureden, während sie sich um ihre Achse drehte und dann auf ein kleines Café an der Ecke deutete, das mit seinen durchgesessenen Polstersitzen sicher ein wenig
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