Nachtpfade
war offensichtlich, dass sie noch – nicht schon
wieder – wach war. Mir wurde auch berichtet, dass sie öfter einen fast
verwirrten Eindruck gemacht hätte, so als wüsste sie gar nicht, wo sie war«,
sagte die Apothekerin.
»Alkohol? Drogen? Tabletten? Letzteres würde sich ja
anbieten in einer Apotheke«, meinte Gerhard.
Die Frau sah ihn missbilligend an. »Ja, alle Apotheker
sind tablettenabhängig, alle Ärzte nehmen Prozac, und alle Künstler saufen. So
was in der Art?«
»Ich wollte Ihnen da jetzt nicht zu nahe treten. Es
geht rein um Jacky.«
»Mir ist nichts aufgefallen, Alkohol hat sie definitiv
gar keinen getrunken. Sie war eben sehr häufig in der Nacht unterwegs – ob
unter Tabletteneinfluss oder zugekifft, das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Ja, okay, aber war das denn so schlimm mit der
nächtlichen Aktivität?« Gerhard provozierte noch immer ein bisschen.
»Ja, okay? Na Sie sind gut! Das war sicher der Grund
für das Verschlafen, die Fehler. Der Mensch braucht nun mal Schlaf. Ich hab ihr
versucht zu vermitteln, dass sie gerne am Wochenende tun und lassen kann, was
sie will. Dass mich ihr Privatleben nicht interessiert, aber dass ich erwarte,
dass meine Mitarbeiter wach und motiviert ihre Arbeit machen.«
»Aber da ließ sie nicht mit sich reden?« Gerhard klang
nun wieder neutral.
»Doch, sie versprach, sich Mühe zu geben. Sie hätte
eben Schlafstörungen. Ich habe ihr sogar ein leichtes Schlafmittel gegeben«,
sagte die Apothekerin.
»Ja?«
»Sie war da sehr ablehnend, sie hatte Angst, abhängig
zu werden. Das spricht auch gegen einen Abusus von Medikamenten. Es ging dann
zwei Wochen etwas besser, und dann war alles wie vorher. Ich habe ihr sogar die
Adresse einer Therapeutin besorgt.«
»Warum eine Therapeutin, bloß weil ein junger Mensch
nachtaktiv ist? Da müssten fünfzig Prozent aller Studenten zum Therapeuten.«
Gerhard fühlte sich müde und leer, und er hatte wirklich keine Muße, sich
irgendwelchen Psychokram anzuhören. Er schlief zurzeit schließlich auch
schlecht, brauchte er deswegen einen Therapeuten?
Sie ging auf seine Provokation nicht ein. »Vielleicht
hätte ich mich selbst mehr kümmern müssen. Aber sie war eine Mitarbeiterin
unter anderen. Mitten im Tagesgeschäft, mitten in den Bedürfnissen der Familie
wird es schwer, jedem Einzelnen immer gerecht zu werden. Aber in der Rückschau
fällt mir auf, dass sie ein paarmal hinten aus der Giftküche«, sie lachte kurz,
»also dort, wo wir Medikamente hergestellt haben, plötzlich rauslief. Ja,
wirklich fast panisch rauslief.«
»Und haben Sie Jacky zur Rede gestellt?«
»Ja, ihr sei schlecht geworden, sagte sie nur.«
»Aber ihr wurde relativ häufig schlecht, nehme ich
an«, sagte Gerhard und zog die Augenbrauen hoch.
»Ja, und so bitter das ist: Wenn ein erwachsener
Mensch kein Hilfsangebot annimmt, was kann man da machen? Ich habe sogar drei
Mal versucht, ihre Mutter anzurufen.«
»Versucht?«
»Ja, ich habe angerufen. Der Lebensgefährte der Mutter
war immer dran. Hat gesagt, sie sei krank oder nicht da. Einmal wollte die
Mutter zurückrufen, aber es ist nichts passiert.«
»Der Lebensgefährte, ein Herr Bodenmüller, hat
ausgesagt, er wollte seine Freundin nicht aufregen. Sie hätte genug Ärger mit
dem Mädchen gehabt«, erklärte Gerhard und fuhr fort: »Und dann haben Sie Jacky
letztlich entlassen?«
»Ja, wir konnten nicht anders. Auch wegen der anderen
Mitarbeiter, die sich bemühen. Was wäre das bitte für ein Signal an die anderen
gewesen, wenn wir sie behalten hätten?«
»Wissen Sie, was aus ihr dann wurde?«
»Ja, sie hat eine Zeit lang bei der alten Frau Jocher
gelebt, das hat mich beruhigt.«
»Frau Jocher?«
»Eine Kundin von uns, eine sehr ungewöhnliche alte
Dame. Fit wie ein Turnschuh und glasklare Gedanken. Sie lebt jetzt allerdings
im Altersheim in Schongau. Wo Jacky dann hin ist, wie gesagt, keine Ahnung.«
Gerhard verabschiedete sich, nickte Evi zu, die
mitgeschrieben hatte, und als sie wieder auf der Alpspitzstraße standen, atmete
er tief durch. »Wie kann man so eine Schau bloß freiwillig besuchen?«
»Den Leuten gefällt das. Ist doch ein netter
Treffpunkt. Du wirst allmählich ein menschenscheuer Grantler, Weinzirl. Falls
das deine Adaption oberbayerischen Charmes sein soll, na danke schön.« Evi
verzog unwillig die Mundwinkel.
»Ich war immer schon so. Ich habe Menschenaufläufe und
Stinkefüße seit jeher gehasst.«
»Und Frauen wie Frau Apotheker? Zu dünn?
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