Nachtpfade
sagte Frau Jocher nur.
»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Ja und? Junger Mann, werden Sie so alt wie ich. Da
schläft man auch nicht in der Nacht. Ich stricke, oder ich schaue fern, aber da
kommt ja nur noch Sex. Eine arme Zeit, traurige Menschen – diese Welt hat keine
Geheimnisse mehr. Alles ist heute nackt.«
»Und wieso ist Jacky bei Ihnen dann weg?«
»Weil meine Tochter Ende 2003 fand, dass ich in ein
Heim sollte. Weil sie die Wohnung wollte.«
»Und Sie sind einfach gegangen?«
»Sie wird in der Wohnung nicht froh. Ich spuke da von
Zeit zu Zeit ein bisschen.« Frau Jocher lächelte verschmitzt und fuhr fort: »Und Sie haben ja recht. Es ist doch ganz unterhaltsam hier. Es kommen immer
die Stadtführungen vorbei, und zudem rede ich viel mit dem großen geschnitzten
Christus. Der ist 1994 vom Pürschling zu uns runtergezogen. Ich meine, wenn der
Heiland vom Berg kommt, kann ich auch hier wohnen.«
»Und Jacky, die stand dann wieder auf der Straße?«
»Nein, ich habe ihr noch eine Arbeit besorgt. Bei der
Flößerstube in Echelsbach. Gute Leute, kenne ich von früher.«
»Es hat dort aber leider nicht geklappt mit der
Jacky.«
»Ja, wenn’s einmal in einem Leben hakt, dann bleibt
der Wurm drin. Sie war ab und zu noch bei mir zu Besuch.«
»Und hat sie Ihnen denn mal was aus ihrem Leben
erzählt?«
»Dass es beim Erhard-Bauern recht gut passt und dass
sie da auf jeden Fall und unbedingt bleiben wird.«
»Aber nun ist sie tot.«
»Ja, viel zu früh! Sie war ein gutes Mädchen. Aber bei
manchen klappt es nicht, weil auf manchen Menschen ein Fluch ruht.«
Als Gerhard sich verabschiedet hatte, nicht ohne Frau
Jocher zu versprechen, mal wieder vorbeizukommen und ihr Edle Tropfen in Nuss
mitzubringen, war er fast so was wie glücklich. Wenn man so altern durfte, war
die Aussicht ja doch nicht so trübe. Allerdings wusste er immer noch viel zu
wenig über die Ermordete. Aber Frau Jocher hatte mit so viel Wärme von dem
Mädchen gesprochen, dass sie wohl doch nicht einfach nur eine Rumtreiberin
gewesen sein konnte. Als er wieder bei Toni ankam, war der Laden nahezu leer.
»Soll ich dich schnell heimfahren?«, fragte Toni.
»Wenn das geht.«
»Sicher, ist ja noch nichts los.«
»Wohin?«
»Nach Tankenrain. In meine Wohnung. Geht das?«
»Klar.«
Toni nahm den illegalen Weg an der Moosmühle und dem
Segelflugplatz vorbei zum Hahnenbühl. Er grinste. »Hab ja die Polizei im Auto.
Neuer Fall?«
»Ja.«
»Ja dann.«
Toni hatte ihn aussteigen lassen und war Richtung
Weilheim davongefahren. Gerhard überquerte die Straße, ein Fall für Abenteurer
oder Suizidkandidaten. Die rasten wie die Irren hier. Er wunderte sich, dass
die Katzen seiner Vermieter noch nicht platt gefahren waren. Jetzt sorgte er
sich schon um Katzen. Dieses Landleben mit den Tiermädels allerorten tat ihm
nicht gut. Sarah, die Tochter seiner Vermieter, war ja auch so ein in Tiere vernarrtes
Exemplar, und just als er den Hof betrat, kam sie ihm entgegen. Sie war mal
wieder in langen Rock und Mieder gewandet, mal wieder auf dem Weg zu
irgendeinem Mittelalter-Event. Sie war mittelaltersüchtig und hatte ein Faible
für Spielmänner. Dass diese Begeisterung weniger der Musik galt, sondern
anderen Qualitäten, hatte sie ihm durchaus mal ganz offen erzählt. Himmel,
warum konnte er kein Instrument oder ließ sich lange Haare wachsen? Er wünschte
ihr viel Spaß, und als er ihrer Gestalt in diesem provokanten Mieder nachsah,
war er sicher, dass sie den Spaß haben würde. Leider nicht mit ihm.
Er rief sich zur Räson. Er könnte fast ihr Vater sein,
er war mit Kassandra zusammen – oder so. Kassandra! Er versuchte es erneut, und
schließlich wählte er die Nummer in der WG .
Dort ging nach einmal Läuten der AB dran. Gerhard war froh darüber. »Hallo, ich wollte mich mal melden. Meldet ihr
euch halt mal.« Dumme Aussage, wo er doch wusste, dass nur Jo zu Hause war.
Dumm und so unverbindlich wie die Zeitansage. Das Weißbier, das er aufmachte,
schmeckte schal.
Er schlief früh ein, schlief sogar mal gut, erwachte
früh, lief eine Runde im Wald und spürte, dass er langsam wieder vom Zombie zum
Menschen wurde. »Pack mers!«, rief er seinem Spiegelbild beim Rasieren zu und
wollte gerade ins Büro fahren, als sein Handy läutete. Es läutete wirklich, er
hatte so einen Nostalgie-Ton eingespeichert, weil ihn die ganzen sonstigen
Klingeltöne, Geräusche und Musikstücke extrem nervten. Es war Jo, und das hatte
er geahnt. Sie hatte die
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